Lügen, Locken, Likes

Rapunzel saß vor einem kleinen, fleckigen Spiegel in der Herberge und zog eine Strähne ihres Haares durch die Finger. Keine Stylisten. Keine teuren Produkte. Kein perfekt inszeniertes Licht. Nur sie – und das, was von ihrem legendären Haar übrig geblieben war. Es war immer noch lang, aber nicht mehr so endlos, wie die Leute glaubten. Es war immer noch glänzend, aber nicht mehr durch magische Seren perfektioniert. Es war immer noch ein Symbol – aber für was, wusste sie selbst nicht mehr. Sie hatte ihre Haare immer als ihre Krone betrachtet. Jetzt fühlte es sich eher wie eine Last an. Die Welt hatte sich über ihre Extensions aufgeregt, als wäre das ihr größter Betrug gewesen. Aber das war nicht die wahre Lüge. Die wahre Lüge war das Leben, das sie verkauft hatte. Ein Märchen, das keines war. Perfekte Bilder, die eine perfekte Existenz vorgaukelten. Ein Turm, der nicht aus Stein, sondern aus Likes und Erwartungen gebaut war. Und sie hatte sich selbst darin eingesperrt. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel.

Kein Make-up. Kein Weichzeichner.

Nur sie. Zum ersten Mal seit Jahren wusste sie nicht, was sie von ihrem eigenen Spiegelbild halten sollte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Früher hätte sie dieses Gefühl – diese Mischung aus Unsicherheit und Erkenntnis – sofort in einen Post verwandelt. Ein melancholisches Selfie.

Eine nachdenkliche Caption. Ein Hashtag, der nach Echtheit klang, aber perfekt berechnet war. Aber jetzt? Jetzt spürte sie, dass sie keine Bestätigung mehr brauchte. Zumindest nicht heute.

Sie legte das Handy weg, nahm eine Haarbürste und begann langsam zu kämmen. Nicht für eine Kamera. Nicht für ein Publikum. Nur für sich selbst.

Vielleicht war das der Anfang von etwas Neuem. Vielleicht war es endlich echt.

Exklusive-Interview

Rapunzel saß in einem kleinen Café am Rande des Königreichs, ihre Haare ordentlich zu einem lockeren Knoten gebunden, das Gesicht ungeschminkt. Es war eine der ersten Male, dass sie sich bewusst gegen das perfekte Bild entschieden hatte. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft, und der Lärm der Straßen schien sich von der leisen Ecke, in der sie saß, fernzuhalten. Gegenüber von ihr saß ein Reporter – jung, hungrig nach Klicks und Storys, mit einem Notizbuch in der Hand, das mehr aussah wie ein überdimensioniertes Smartphone. »Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, Rapunzel«, begann er. »Es ist nicht jeder Tag, dass man die Möglichkeit hat, eine Influencerin zu treffen, die gerade ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt.« Sie nickte, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und setzte das leere Glas wieder auf den Tisch. »Gern«, sagte sie schlicht, und ihre Stimme klang ruhiger als erwartet. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor einem echten Menschen zu sitzen, nicht vor einer Kamera, die ihre Bewegungen ständig überwachte. Der Reporter klappte das Notizbuch auf und begann, seine Fragen zu stellen. »Also, Rapunzel, wir haben dich jahrelang in den sozialen Medien gesehen – die makellosen Bilder, das perfekte Leben. Und plötzlich verschwindest du aus dem Radar. Warum? Was ist passiert?«

Sie lachte kurz. »Das klingt so dramatisch, oder? Wie ein Thriller, in dem das vermeintliche Märchen plötzlich in die düstere Realität kippt.« Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und seufzte. »Ich habe das Gefühl, ich bin in meiner eigenen Geschichte gefangen, die ich selbst erschaffen habe.« »In deiner eigenen Geschichte?« Der Reporter blätterte durch seine Notizen und sah sie skeptisch an. »Aber hast du nicht genau diese Geschichte selbst erzählt? Die Märchenhafte, das perfekte Leben?« Rapunzel nickte langsam. »Ja, das habe ich. Und es war… einfach. Es war leicht. Es war die perfekte Flucht vor der Realität.« Sie pauste, als überlegte sie, wie sie weitermachen sollte. »Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass das Leben, das ich verkauft habe, mich eingeholt hat. Die perfekte Märchenprinzessin, die aus einem Turm aus Locken und Likes heraus lebt… ist einfach nicht real.« Der Reporter schien überrascht, aber er hielt seine Fragen nicht zurück. »Was hat dich dazu gebracht, den Turm zu verlassen? War es der Druck der Öffentlichkeit, oder ging es eher um den Wunsch, etwas Echtes zu finden?«

Rapunzel schüttelte den Kopf. »Es war nicht der Druck der Öffentlichkeit. Der kam später. Am Anfang war es einfach der Wunsch, zu wissen, wer ich wirklich bin, ohne Filter, ohne Szenenwechsel. Weißt du, in der digitalen Welt kann man sich selbst ziemlich leicht verlieren. Du wirst zu einem Produkt, und jeder Klick, jedes Like fühlt sich an wie eine Bestätigung dafür, dass du irgendetwas richtig machst. Aber es war nie wirklich ich.«

Der Reporter stellte den Stift auf den Tisch und schüttelte den Kopf. »Das ist ein harter Schritt. Viele würden sich in deinem Leben in der Welt der Likes, der Sponsoren und der Follower verlieren. Du hast all das aufgegeben – freiwillig.« Rapunzel lachte bitter. »Ich habe nicht wirklich aufgegeben. Ich habe nur etwas anderes entdeckt – dass es mehr gibt, als nur Likes. Dass der wahre Wert nicht in der Anzahl der Follower liegt oder in der Höhe der Sponsorenbeiträge. Es geht darum, was du im Inneren fühlst, wenn der Bildschirm ausgeht.« Sie machte eine Pause, dann sah sie ihm direkt in die Augen. »Und weißt du was? Die Leute, die mir immer nachgejagt sind – die wollen jetzt die echte Rapunzel sehen. Sie wollen wissen, wie es ist, ohne all diese Masken zu leben. Ohne Filter.«

»Also, was kommt jetzt?« fragte der Reporter und legte das Notizbuch beiseite. »Gibt es einen Plan?« Rapunzel überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich werde einfach mal sehen, wohin mich der Weg führt. Ich werde nicht mehr in meinem Turm sitzen und darauf warten, dass die Welt mich entdeckt. Jetzt gehe ich hinaus und finde heraus, was echt ist. Ob es dabei Likes gibt oder nicht – ich werde es herausfinden.« Der Reporter nickte, als ob er endlich verstand. »Das ist ziemlich mutig, Rapunzel.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber am Ende des Tages geht es darum, sich selbst zu finden. Und manchmal bedeutet das, aus der eigenen Geschichte auszubrechen.« Die Kamera des Reporters klickte, als er seine letzte Frage stellte: »Glaubst du, du kannst der Welt weiterhin etwas beibringen – aber diesmal ohne die Märchenfassade?« Rapunzel lächelte, ein echtes Lächeln, das sie lange nicht mehr auf ihrem Gesicht getragen hatte. »Ich hoffe es. Denn es gibt so viel mehr zu lernen, wenn man bereit ist, die Lügen hinter sich zu lassen.« Der Reporter stellte das Notizbuch weg und beugte sich vor. »Ich denke, du wirst noch viele Menschen erreichen, Rapunzel. Nur diesmal auf deine eigene, echte Art.« Sie nickte, stand auf und ging zur Tür. »Danke, dass du mir zugehört hast.« Und als sie durch die Tür trat, wusste sie, dass dies der erste Schritt war – nicht nur in die Welt, sondern in eine neue Realität, die sie sich selbst erschaffen würde.

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