Hexe oder Managerin?

Rapunzel saß mit verschränkten Armen auf ihrem samtbezogenen Sessel und starrte Gothel an. Gothel, die seelenruhig an ihrem Weinglas nippte, als würde sie nicht gerade zur meistgehassten Person des Internets erklärt werden. #FreeRapunzel war überall. Leute forderten Interviews. Es gab Petitionen. Es gab sogar erste Proteste vor dem Schloss. Und Gothel? Sie blieb völlig unbeeindruckt. »Also«, begann Rapunzel langsam, »hältst du mich hier jetzt gefangen oder nicht?«

Gothel lachte leise. »Ach, Liebes. Wie lange brauchst du noch, um zu verstehen, dass ich dich niemals festgehalten habe?« Rapunzel presste die Lippen zusammen. »Du hast mich manipuliert.« »Ich habe dir Optionen gegeben.« »Ich habe nie eine echte Wahl gehabt.« Gothel setzte das Glas ab. »Und das erzählst du mir?« Rapunzel wusste, dass die Welt eine Bösewichtin wollte. Ein klares Narrativ. Eine Frau mit dunklen Absichten, die eine unschuldige Prinzessin aus reiner Bosheit eingesperrt hatte. Aber so war es nie gewesen. Gothel hatte sie nicht »gefangen« genommen. Sie hatte ihr eine Karriere gegeben. Sie hatte ihr beigebracht, wie man eine Marke erschafft. Und Rapunzel hatte es akzeptiert. Jahr für Jahr. Post für Post.

Deal für Deal. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte Gothel schließlich. Rapunzel hob eine Augenbraue. »Bitte erleuchte mich.«

»Du willst frei sein. Aber du willst auch die Reichweite behalten.« Rapunzel verzog das Gesicht. »Ich will nicht, dass das Internet entscheidet, wer ich bin.« »Oh, Liebes.« Gothel lächelte kalt. »Das hat das Internet schon lange getan.« Rapunzel wusste nicht mehr, wer Gothel wirklich war.

War sie die böse Hexe, die sie in diesem Turm gefangen hielt? Oder war sie einfach nur eine brillante Geschäftsfrau, die die Welt besser verstand als sie? Wahrscheinlich beides.

»Also«, sagte Gothel schließlich. »Was ist dein Plan?« Rapunzel drehte ihr Handy in den Händen. »Ich werde ausziehen.« Gothel schmunzelte. »Oh? Und wohin gehst du?« »Ich weiß es nicht.« »Aber du glaubst, dass das Internet dich dort in Ruhe lassen wird?« Rapunzel biss sich auf die Lippe. »Nein.« Gothel nickte. »Gut. Dann hast du wenigstens das verstanden.« Gothel erhob sich und trat ans Fenster. »Weißt du, ich habe nie erwartet, dass du für immer bleibst«, sagte sie. »Aber ich hätte gehofft, dass du verstehst, wie dieses Spiel funktioniert.« Rapunzel stand ebenfalls auf. »Oh, ich habe es verstanden.« Sie nahm ihr Handy, öffnete Instagram und begann zu tippen: ›Ich gehe. Nicht, weil ihr es fordert. Nicht, weil ich es muss. Sondern weil es Zeit wird.‹ Dann postete sie es. Innerhalb von Sekunden explodierten die Reaktionen. »WAS?!«

»OMG, wohin geht sie?!« »Ist das das Ende von Rapunzel?!« Gothel sah ihr über die Schulter und lächelte leicht.

»Sehr gut. Jetzt kontrollierst du die Geschichte.« Rapunzel wusste, dass sie recht hatte. Hexe oder Managerin – am Ende machte das keinen Unterschied.

Denn jetzt war Rapunzel endlich die Erzählerin ihrer eigenen Geschichte.

Hashtag #Neuanfang. Hashtag #KeinMärchenMehr.

Escape Plan mit Storytime

Rapunzel saß auf ihrem Bett, die Beine angewinkelt, das Handy auf dem Schoß. Der Turm war still. Kein Licht von den Kameras, kein hektisches Tippen auf ihrem Display, keine Sprachnachrichten von Gothel mit Anweisungen, was sie als Nächstes tun sollte. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie wirklich allein war. Und es fühlte sich… seltsam an. Sie nahm einen tiefen Atemzug, öffnete ihre Kamera und drückte auf Aufnahme. »Okay, Leute. Zeit für eine kleine Storytime.«

Sie sah direkt in die Linse. »Ich weiß, dass ihr euch fragt, was gerade passiert. Warum ich nichts poste, warum ich nicht auf die ganzen Gerüchte reagiere, warum ich immer noch in diesem verdammten Turm sitze, wenn ganz Twitter #FreeRapunzel schreit.« Sie ließ eine Pause, genau lang genug, damit die Zuschauer im Chat spürten, dass etwas Großes kam. Dann lehnte sie sich vor. »Also gut. Hier ist die Wahrheit.« »Ich hatte einen Plan.«

Sie zuckte die Schultern. »Einen richtigen, ausgearbeiteten, genialen Fluchtplan. Ich wollte das Märchen selbst beenden. Wollte mitten in der Nacht abhauen, mein altes Leben hinter mir lassen, irgendwohin gehen, wo mich niemand kennt. Einfach verschwinden.« Sie grinste leicht. »Aber wisst ihr, was das Problem daran ist?« Die Kommentare explodierten. »OMG, sie wollte echt abhauen?!«

»Wohin?!« »Lass uns helfen!!« Rapunzel schüttelte den Kopf. »Das Problem ist: Man kann nicht einfach aus einem Märchen fliehen.« »Ich dachte, es wäre einfach. Tasche packen, Turm verlassen, neues Leben starten. Aber dann… habe ich realisiert, dass ich nirgendwo hingehen kann, ohne dass jemand ein Foto macht. Ohne dass jemand ein Video dreht. Ohne dass jemand meine Location leakt.« Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich bin nicht nur eine Person. Ich bin eine verdammte Storyline. Und wenn du eine Storyline bist, dann gehört dir deine Geschichte nicht mehr.« Stille im Chat. Dann: »Das ist so krass.« »Ich habe nie darüber nachgedacht.« »Also bist du wirklich gefangen?« Rapunzel sah in die Kamera. »Ja. Aber nicht in diesem Turm.« Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. »Also, hier ist der neue Plan.« Die Spannung im Chat stieg. »OMG sag es!!« »Was hast du vor?!« Sie lächelte leicht. »Ich erzähle meine Geschichte. Richtig. Nicht als PR-Kampagne, nicht als inszenierte Tränen-Story, nicht als das, was irgendjemand von mir erwartet. Sondern so, wie sie wirklich ist.« Sie ließ die Worte sacken. Dann nahm sie ihr Handy, hielt es in die Kamera und zeigte ihren Bildschirm. »Ich schreibe alles auf. Jede Lüge. Jede Manipulation. Jede Wahrheit, die ich selbst erst jetzt verstehe.« Das Chat-Fenster explodierte. »BITTE MACH EIN BUCH!!« »Drop den ersten Kapitel-Teaser!« »Ich will ALLES wissen!«

Rapunzel grinste. »Geduld, meine Süßen. Es ist noch nicht vorbei.« Dann stoppte sie die Aufnahme, lud das Video hoch und legte ihr Handy weg.

Ihr Escape Plan hatte sich geändert. Sie würde nicht verschwinden. Sie würde nicht weglaufen. Sie würde bleiben.

Und sie würde alles erzählen. Hashtag #DieWahreGeschichte. Hashtag #RapunzelUncensored.

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