Rapunzel saß auf ihrem perfekt arrangierten Samtsofa, das Licht fiel in genau dem richtigen Winkel durch das Turmfenster, ihr goldenes Haar war kunstvoll über die Lehne drapiert – als hätte sie sich völlig zufällig genau so hingesetzt. Natürlich war nichts daran zufällig. Jede Pose, jeder Winkel, jedes einzelne Haar auf ihrem Kopf war durchdacht. Sie öffnete die Kamera ihres Handys, überprüfte ihr Gesicht im Bildschirm und setzte ein leicht verträumtes Lächeln auf. Soft, aber nicht zu soft. Natürlich, aber nicht langweilig. Dann drückte sie auf Aufnahme. »Hey, meine Süßen! Heute ein ganz entspannter Tag hier im Turm… einfach mal ein bisschen Selfcare und Quality Time mit mir selbst.« Sie ließ den Satz locker klingen, als wäre ihr Leben pure Entspannung.
Was sie nicht sagte: Dass sie seit drei Stunden versuchte, das perfekte Licht für dieses Video zu finden. Dass sie fünfzig Mal ihren Haarschwung geübt hatte, weil er nicht »mühelos genug« aussah. Dass sie eigentlich keine Lust hatte, schon wieder in eine Kamera zu lächeln. Aber das war eben das Business. Rapunzel hatte früh gelernt, dass »Echtheit« ein dehnbarer Begriff war. Ihre Follower wollten Authentizität – aber nur die richtige Art. Sie wollten »ungefilterte« Selfies, die trotzdem makellos aussahen.
Sie wollten »echte Einblicke« in ihr Leben, aber ohne den langweiligen oder deprimierenden Teil. Sie wollten »Natürlichkeit«, die mindestens drei Stunden Styling benötigte. Also gab sie ihnen genau das. »Fake it till you make it«, hatte Gothel einmal gesagt. »Oder besser: Fake it, weil du es gemacht hast.« Rapunzel hatte anfangs gezweifelt. Konnte sie wirklich ein Leben vorspielen? Sich ständig in Szene setzen, obwohl sie eigentlich nur in ihrer Jogginghose auf dem Sofa lümmeln wollte? Die Antwort war: Ja.
Und es funktionierte. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie das perfekte »Morgenroutine«-Video gedreht hatte.
Die Realität: Sie war um sechs Uhr aufgestanden, weil das Morgenlicht dann am besten war. Ihre Haut war aufgequollen, also hatte sie Eiswürfel auf ihr Gesicht gedrückt, bevor sie überhaupt an eine Kamera dachte. Ihre »natürlich glänzenden« Haare waren vorher mit drei verschiedenen Produkten behandelt worden. Der perfekte »Aufwach-Moment«, in dem sie gähnend die Augen öffnete? Sie hatte ihn zehn Mal wiederholt. Das Video ging viral. Millionen sahen es, kommentierten, wie »wunderschön unperfekt« sie aussahen. Rapunzel hatte gelacht. Die Leute wollten das Märchen glauben. Und sie gab es ihnen.
Aber es gab Tage, an denen selbst sie es nicht mehr sehen konnte. Tage, an denen sie auf ihr eigenes Lächeln starrte und dachte: Wer ist das eigentlich? Tage, an denen sie Kommentare las wie »Rapunzel ist so real!«, und sie sich fragte, ob jemand überhaupt ahnte, wie unecht alles war. Sie war gefangen in ihrem eigenen Image. Perfekt, makellos, immer gut gelaunt. Und dann war da diese Nachricht in ihren DMs. @RealWorldRobin: ›Bist du wirklich glücklich?‹ Rapunzel starrte auf die Worte. Sie hatte keine Antwort. Hashtag #PerfekteIllusion.
Hashtag #FakenBisEsEchtWird?
Sliding into my DMs
Rapunzel lag auf ihrem samtbezogenen Bett, scrollte durch ihre Nachrichten und fragte sich zum hundertsten Mal, warum sie sich das eigentlich antat. Ihr Post von heute Morgen – ein perfekt inszeniertes »Spontanbild« von ihr am Fenster, nachdenklich in die Ferne blickend – hatte natürlich wieder tausende Kommentare bekommen.
»Wow, Rapunzel, du bist so inspirierend!« »Dein Haar sieht wieder umwerfend aus!« »Bitte bemerke mich! Ich liebe dich!« Sie las sie alle, nickte ab und zu, antwortete auf ein paar ausgewählte Nachrichten – nichts Neues. Und dann war da diese DM. @RealWorldRobin: ›Sag mal, was würdest du eigentlich tun, wenn du einfach mal so rausgehen könntest?‹ Rapunzel runzelte die Stirn. Keine übertriebene Bewunderung. Keine Frage nach ihrer Haarroutine. Keine verzweifelten »Bitte folg mir zurück!«-Betteleien. Einfach nur diese eine, verdammt normale Frage. Sie zögerte. Ihre übliche Reaktion wäre, die Nachricht zu ignorieren oder mit einem charmanten, aber unpersönlichen Kommentar zu antworten. Doch irgendetwas hielt sie davon ab. Sie legte das Handy beiseite und starrte an die Decke. Was würde ich tun, wenn ich einfach mal rausgehen könnte? Es war eine merkwürdige Frage. Nicht, weil sie schwer zu beantworten war, sondern weil sie sich selbst nie wirklich Gedanken darüber gemacht hatte. Sie war ihr ganzes Leben lang in diesem Turm. Erst als »Schutz« – so hatte Gothel es ihr früher verkauft – und später als Geschäftsmodell. Ihre Welt bestand aus Bildschirmen, aus perfekt inszenierten Videos, aus Likes und Kommentaren. Aber wenn sie einfach so rausgehen könnte? Ohne Kameras? Ohne Publikum? Rapunzel seufzte und griff wieder nach ihrem Handy. ›Gute Frage. Wahrscheinlich würde ich erst mal rausfinden, wie sich echter Boden unter den Füßen anfühlt. Dann würde ich ein richtiges Croissant essen. Und dann... keine Ahnung.‹ Sie schickte die Nachricht ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Normalerweise antworteten ihre Follower nicht sofort – immerhin war sie eine Berühmtheit, und die meisten rechneten nicht einmal damit, dass sie ihre Nachrichten las. Doch keine fünf Minuten später blinkte ihre Inbox auf. @RealWorldRobin: ›Echtes Croissant klingt nach einem Plan. Und danach?‹
Rapunzel grinste leicht. ›Danach würde ich einen langen Spaziergang machen. Irgendwohin, wo es keine perfekten Winkel und keine Ringlichter gibt.‹ @RealWorldRobin: ›Also irgendwohin, wo das echte Leben passiert? Klingt gefährlich.‹ Sie lachte leise und tippte: ›Oh ja, wildes Terrain für eine professionelle Turmbewohnerin.‹ Es fühlte sich seltsam an, mit jemandem zu schreiben, der keine Fragen über ihr Aussehen oder ihre nächste Produktkooperation stellte. Einfach nur ein Gespräch, ohne Hintergedanken. @RealWorldRobin: ›Schon mal überlegt, das einfach zu machen?‹ Rapunzel stockte. Natürlich hatte sie das. Jede Nacht, wenn sie am Fenster saß und in den Himmel starrte, hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, einfach zu verschwinden. Einfach loszulaufen, egal wohin. Aber es war nie eine echte Option gewesen. Oder?
Sie tippte langsam: ›Und wenn ich es tue?‹ @RealWorldRobin: ›Dann solltest du mir vorher sagen, wo du hinwillst. Vielleicht gibt’s dort wirklich gute Croissants.‹ Rapunzel starrte auf die Nachricht und spürte zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Aufregung. Hashtag #Neugierig. Hashtag #WasWennDoch?
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