Mama und ihre Erwartungen

Ich liebe meine Mutter. Das sollte ich gleich zu Beginn sagen. Nicht, weil ich mich damit schützen will, sondern weil es die Wahrheit ist. Manchmal fühlt sich ihre Liebe jedoch an wie ein Maßband, das sich eng um meine Brust legt, um zu prüfen, ob ich noch ihren Erwartungen entspreche.

Sie meint es immer gut. Sie fragt nach meinen Noten, meinem Schlaf und meiner Hautpflege. Sie bringt mir Tee, wenn ich krank bin, und legt mir Zettel mit „Hab dich lieb“ in die Brotdose. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich bei ihr jeden Tag eine Rolle spiele.

Heute saßen wir beim Abendessen. Es gab Ofengemüse, das sie extra so gemacht hatte, „wie du’s magst“. Ich mochte es, klar. Aber ich mochte es weniger, dass jede Gabel wie ein Gespräch war, das sie nicht führte. Stattdessen kamen Fragen.

„Wie läuft’s mit Mia?“ Ich biss auf ein Stück Zucchini. Hart. „Gut“, log ich.

„Sie ist wirklich ein nettes Mädchen. Und hübsch.“ Ich nickte. „Ich meine nicht, dass das das Wichtigste ist… aber du verstehst schon.“ Wieder nickte ich.

Was ich sagen wollte: Mama, ich weiß nicht, ob ich überhaupt auf Mädchen stehe. Was ich stattdessen sagte: „Ja, sie ist cool.“

Dann kam der Klassiker. „Du warst früher so offen. Weißt du noch, wie du mit vier in der Kita laut gesungen hast und nie aufhören wolltest zu erzählen?“ Ich lächelte. Aber es war nicht das Lächeln von damals. Es war das Lächeln von jemandem, der weiß, dass diese Version von sich nicht mehr existiert – und vielleicht nie ganz echt war.

Sie seufzte. „Ich frage mich manchmal, ob ich etwas falsch gemacht habe.“

Ich sah auf. „Wieso?“

„Na ja… du bist so zurückhaltend und verschlossen. Ich möchte doch nur, dass du glücklich bist.“

Ich senkte den Blick. Und was, wenn ich es nicht bin? Was, wenn ich es nie war? Aber ich sagte nichts.

Denn ihre Vorstellung von Glück war immer klar: Ein guter Schulabschluss, ein fester Freundeskreis und eine Freundin, die „nett ist“ und „ins Bild passt“. Ordentlich, freundlich und angepasst.

Und ich? Ich war müde. Von diesem Bild. Von dem Versuch, hineinzupassen, ohne darin zu verschwinden.

Als ich später in meinem Zimmer saß, hörte ich sie unten telefonieren. Mit ihrer Schwester vermutlich.

„Ja, alles gut bei ihm… ein bisschen ruhiger in letzter Zeit, aber das ist halt die Pubertät.“ Ich verzog das Gesicht.

Pubertät. Das Universalwort, das alles entschuldigt, was man nicht versteht.

Ich wollte runtergehen. Widersprechen.

Sagen: Es ist nicht die Pubertät, Mama. Es ist Identität. Es ist Angst. Es ist dieses ständige Gefühl, dass ich nicht richtig bin, egal wie sehr ich mich bemühe.

Aber ich blieb sitzen. Weil ich wusste, sie würde nicken, verständnisvoll schauen – und dann trotzdem nichts wirklich begreifen.

Nicht, weil sie nicht will. Sondern weil sie nie gelernt hat, dass Liebe auch bedeutet, Fragen zu stellen, ohne sofort Antworten zu wollen.

Sie liebt mich, davon bin ich überzeugt. Aber sie liebt die Version von mir, die ich ihr präsentiere – die gut funktioniert, die okay ist, die sich „hält ein bisschen zurückzieht“, aber ansonsten ganz „normal“ wirkt.

Ich weiß nicht, ob sie auch die echte Version lieben würde – die, die zweifelt, die anders liebt, die nachts heult, weil sie nicht weiß, wie sie in diese Welt passen soll, ohne sich dabei zu verlieren.

Ich wünschte, ich könnte es herausfinden, aber ich habe Angst, dass das Maßband dann reißt, dass die Liebe, die so großzügig wirkt, plötzlich enger wird, wenn ich aus dem Bild falle.

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