Wenn Blicke zu lange dauern

Es beginnt nie mit etwas Großem. Kein Feuerwerk, keine dramatische Musik, kein plötzlicher Lichtstrahl vom Himmel, der auf eine Erkenntnis zeigt. Es sind die kleinen Momente, die man fast übersieht, weil sie sich im Alltag verstecken wie lose Seiten zwischen den Kapiteln. Ein Blick, ein kurzes Zögern, ein einziger Herzschlag, der in der Stille zu laut ist.

Heute war so ein Tag.

Es war in der Pause. Nichts Besonderes. Der Schulhof war voll wie immer, alle in ihren Gruppen, ihre Stimmen ein durcheinanderredendes Radio. Ich saß auf der Mauer am Rand, da, wo ich gern sitze, wenn ich meine Ruhe will, aber nicht allein wirken will. Und dann war da Luca.

Er stand ein paar Meter entfernt, in einem Gespräch mit zwei Jungs aus unserer Klasse. Ich beobachtete ihn, ohne es bewusst zu wollen. Seine Hände, wie er beim Reden gestikulierte. Sein Lachen, das irgendwie unangestrengt klingt. Seine Haare, die ihm ins Gesicht fielen, bis er sie mit einer beiläufigen Bewegung zurückstrich. Und ich erwischte mich dabei, wie ich ihn länger ansah, als ich sollte.

Er merkte es. Natürlich merkte er es.

Sein Blick traf meinen. Nicht flüchtig, nicht aus Versehen. Direkt. Und ich hätte wegsehen sollen. Ich weiß das. Jeder normale Mensch hätte weggesehen. Aber ich war wie eingefroren. Mein Herz klopfte zu laut, mein Magen verkrampfte sich, und mein Blick sagte: Ich hab dich gesehen. Wirklich gesehen.

Und dann lächelte er, ganz leicht, als hätte er etwas bemerkt. Oder vielleicht war es auch nur meine Fantasie, ein höfliches Lächeln, ein Reflex.

Ich zwang mich, den Blick zu lösen und tat so, als würde ich mein Handy checken. Mein Daumen scrollte sinnlos durch alte Chats, während in meinem Kopf eine Lawine losging. Hatte er das gemerkt? Hatte ich ihn zu lange angeschaut? Was, wenn er etwas sagte? Was, wenn er nichts sagte?

Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde, nicht vor Scham, sondern vor Angst. Vor der unklaren Möglichkeit, dass jemand mir etwas ansieht, was ich noch nicht mal selbst aussprechen kann.

Wusste er es? Ahnt er es? Oder… ist da auch etwas?

Die Gedanken hörten nicht auf, auch nicht im Unterricht. Ich saß da, Biobuch aufgeschlagen, aber meine Gedanken waren woanders. Immer wieder spielte ich die Szene ab: sein Lächeln, sein Blick, mein Fehler.

Oder war es keiner?

Ich frage mich, wie andere Leute das machen. Ob sie auch innerlich durchdrehen, wenn sie jemanden zu lange ansehen. Oder ob es nur mir so geht, weil ich ständig alles doppelt und dreifach analysiere. Weil ich so viel Angst habe, dass jemand mich entlarvt, bevor ich mich selbst verstanden habe.

Nach der Schule lief ich langsam nach Hause, Kopfhörer in den Ohren, aber keine Musik. Nur dieses konstante Grundrauschen aus Gedanken, wie ein innerer Sturm, den niemand hört.

Ich fragte mich: Wenn ein Blick so viel auslösen kann, was passiert dann, wenn ich irgendwann nicht mehr wegsehe?

Und tief in mir spürte ich die Antwort, auch wenn ich sie nicht aussprach: Dann beginnt etwas. Vielleicht. Etwas Echtes. Etwas, das ich noch nicht greifen kann. Aber das vielleicht schon lange in mir wartet.

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