Nähe ist ein seltsames Phänomen.
Sie kann Trost, Halt und Wärme spenden. Doch sie kann auch überwältigend sein, brennende Fragen aufwerfen, auf die man keine Antworten hat.
Manchmal reicht ein einziger Zentimeter, um alles zu verändern.
Heute war so ein Tag.
Nach meinem „Ausrutscher“ gestern auf dem Schulhof war ich ein Schatten meiner selbst. Ich war anwesend, aber nicht wirklich präsent. Ich hörte Stimmen, konnte aber die Worte nicht verstehen. Ich bewegte mich, aber nicht aus Überzeugung – nur weil es schlimmer gewesen wäre, stehen zu bleiben.
Niemand sprach mich direkt darauf an. Noch nicht. Aber ich spürte es in den Blicken, die länger dauerten, in den Gesprächen, die verstummten, wenn ich den Raum betrat. In dem einen Satz von Leo, der mir zu locker dahingesagt vorkam, um nicht verdächtig zu sein:
„Alles wie immer, oder?“
Ich hatte keine Kraft zu lügen. Aber ich hatte auch keine Kraft, anders zu sein.
Am Nachmittag schrieb Luca. „Kommst du raus? Einmal abschalten?“
Zuerst wollte ich nein sagen. Aber dann dachte ich: Wenn es jemand schafft, dass ich mich wenigstens für einen Moment nicht wie ein rohes Nervensystem fühle, dann er.
Wir trafen uns im Park. Spätnachmittags. Die Sonne war schon weich, der Wind frisch, aber nicht unangenehm. Er saß da auf der Lehne einer Bank, wie immer mit zu viel Lässigkeit für einen normalen Menschen. Ich fragte mich, ob er das übt – oder ob das einfach er war.
„Hey“, sagte er.
„Hey“, sagte ich.
Wir sprachen wenig und ließen die Stille zwischen uns stehen, ohne sie füllen zu müssen. Irgendwann gingen wir einfach los, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen.
Es war… fast normal. Bis wir an der alten Sporthalle vorbeikamen, die mit den kaputten Fenstern und den Graffitis. Früher war hier immer etwas los, aber jetzt herrschte nur noch Stille. Luca lehnte sich an die Wand, und ich stellte mich neben ihn.
Und dann kam dieser Moment. Unangekündigt, ungeplant, einer dieser Momente, die man erst merkt, wenn man mittendrin ist.
Er sah mich an, nicht flüchtig, nicht wie sonst.
Direkt.
Ich spürte, wie mein Körper reagierte, ohne dass ich es wollte. Meine Schultern verkrampften sich, und mein Herz machte dieses blöde Ding, wo es erst aussetzt und dann doppelt schlägt.
Er sagte: „Weißt du, ich hab gestern über deinen Satz nachgedacht.“
Ich schluckte. „Welchen Satz?“
„Den auf dem Schulhof. Als du… na ja. Als du nicht mehr so getan hast.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Also sagte ich: „War keine Absicht.“
Er nickte langsam. Dann sagte er: „Aber war ehrlich, oder?“
Ich sah weg. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“
Er trat einen Schritt näher. Nicht bedrohlich, nur… näher. Ein bisschen zu nah.
Ich spürte ihn. Nicht mit der Haut, sondern mit allem. Und plötzlich war da wieder diese Grenze. Zwischen „noch normal“ und „nicht mehr harmlos“. Zwischen „Freunde“ und „irgendwas anderes“.
Ich wusste nicht, was er wollte. Ich wusste nicht mal, was ich wollte. Ich wusste nur: Wenn ich mich jetzt bewege – vor oder zurück – verändert sich etwas.
„Du musst mir nichts erzählen, was du nicht teilen möchtest“, sagte er leise. „Ich weiß nicht einmal, was ich sagen würde, wenn ich es versuchen würde“, murmelte ich.
Er nickte, und wieder war dieser Blick auf seinem Gesicht. „Ich finde es gut, wie du bist, auch wenn du es gerade nicht selbst sehen kannst.“
In diesem Moment war er mir zu nahe. Nicht körperlich, sondern emotional. So nahe, dass ich fast geweint hätte.
Ich trat einen Schritt zurück, nicht weil ich ihn nicht mochte, sondern weil ich mich selbst in diesem Moment nicht ertragen konnte. Es war zu viel, zu direkt, zu echt.
„Entschuldige“, flüsterte ich. Er runzelte die Stirn. „Wofür?“ „Für alles. Ich weiß es auch nicht. Für mich.“
Luca schüttelte den Kopf. „Hör auf damit.“
Dann kam er wieder einen halben Schritt näher, nicht aufdringlich, sondern ruhig. „Du bist nicht zu viel, und du bist auch kein Fehler. Du bist einfach du selbst, vielleicht zum ersten Mal.“
Ich antwortete nicht.
Weil ich es nicht konnte.
Weil ich am liebsten geschrien hätte:
Bleib genau da. Aber komm mir nicht näher. Sieh mich. Aber frag nicht nach.
Halt mich fest. Aber nur innerlich.
Er ließ es so stehen. Wir gingen später getrennt nach Hause.
Keine Berührung. Kein Kuss. Kein Happy End. Nur ein Moment, der sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat.
Ein bisschen zu nah. Und trotzdem genau richtig.
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