Schulhofgeflüster

Gerüchte brauchen keine Beweise. Sie brauchen nur ein bisschen Zeit, ein paar gespitzte Ohren und einen Moment, der anders aussieht, als er sollte. Der Schulhof ist der perfekte Ort dafür. Alles ist offen, laut und öffentlich. Es gibt keine Mauern, keine Privatsphäre, nur Blicke, Stimmen und dieses Gefühl, dass man beobachtet wird, auch wenn niemand hinsieht.

Heute war so ein Tag.

Es fing harmlos an. Die erste Pause, die Sonne brannte schräg über das Betonpflaster, als würde sie sich auch nicht ganz wohlfühlen. Ich stand wie immer hinten bei den Fahrradständern, nicht zu auffällig, nicht zu weit weg. Dort, wo man reden kann, aber nicht reden muss. Luca kam rüber, einfach so, als wäre es das Normalste der Welt.

Er grinste. „Ich hab Mathe verhauen. Komplett. Bin jetzt offiziell auf dem Weg zur TikTok-Karriere.“ Ich lachte, echte Freude, gemischt mit einem Hauch Stolz. Dass er zu mir kam. Dass er mit mir sprach.

Wir redeten über nichts Besonderes. Schule. Lehrer. Unsere Mathe-Versagerquote. Ich fühlte mich leicht. Fast normal. Und dann geschah es.

Ich weiß nicht, wie es von außen aussah. Vielleicht gar nicht so schlimm. Vielleicht war es einfach nur ein Moment, den niemand bemerkt hätte – wenn man nicht gerade auf uns gewartet hätte.

Luca griff nach meinem Arm. Kurz. Nur so ein freundschaftliches „Hey, ich meine das ernst“-Greifen. Seine Finger berührten meinen Unterarm. Warm. Zufällig. Aber in meinem Kopf war es ein Blitzschlag.

Und offenbar auch für jemanden sonst.

„Guck mal… voll süß“, sagte eine Stimme hinter mir. Leise, aber schneidend. Ein Mädchen. Ich erkannte ihre Stimme nicht, aber ihre Art – süffisant, spöttisch und gelangweilt.

Ich erstarrte und drehte mich nicht um. Luca ließ meinen Arm los, nicht erschrocken, sondern vorsichtig. Plötzlich war alles anders.

Ich hörte das Kichern und zwei, drei andere Stimmen. Jungs. Sie flüsterten, wieder mit diesem Tonfall. Nicht offen gemein, sondern halb interessiert und halb belustigt. So als wäre das hier ein Spiel, bei dem wir nicht wussten, dass wir mitspielen.

Ich wollte mich umdrehen und etwas sagen, eine dumme Bemerkung machen, irgendwas in die Richtung: „Ja, genau, wow, zwei Jungs reden – muss Liebe sein.“ Aber meine Zunge klebte am Gaumen.

Ich sagte nichts. Luca tat, als würde er’s nicht hören. Vielleicht tat er es wirklich nicht. Vielleicht hatte er Übung darin, sich über Dinge hinwegzusetzen, die wehtun sollten. Oder vielleicht war es ihm egal. Oder… nicht.

Wir redeten weiter, kurz und stockend. Dann verabschiedete er sich und ging zurück zu seiner Gruppe. Ich blieb allein, mit dem Lächeln, das nicht mehr echt war, und einem Zittern in den Händen, das ich nicht abschütteln konnte.

Die zweite Pause war noch schlimmer. Ich spürte die Blicke, nicht viele, aber genug. Ein Flüstern an der Bushaltestelle. Ein Grinsen von Jonas, als er an mir vorbeilief. „Na, du Herzensbrecher“, sagte er. Ich lachte, nicht überzeugend.

Später, im Klassenzimmer, tippte Mia mir auf die Schulter. „Hast du und Luca… also seid ihr so richtig close oder was?“, fragte sie neugierig. Ihr Ton war frei von Eifersucht oder Vorwurf, nur ein Hauch von Gossip. Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ist halt Luca.“

Ich sagte es so beiläufig, dass ich mich selbst fast davon überzeugen konnte. Fast.

Aber ab da war klar: Etwas war in der Luft. Kein Skandal, kein offenes Gespräch. Nur dieses unterschwellige „Hast du’s gesehen?“, das sich wie Nebel zwischen den Gängen ausbreitete.

Schulhofgeflüster.

Und ich? Ich machte mit. Ich lachte mit, hörte weg, tat so, als würde ich nichts merken. Weil ich gelernt habe: Man verliert nie durch das, was man sagt. Man verliert durch das, was man nicht sagt – wenn es irgendwann zu spät ist.

An diesem Abend lag ich im Bett, Handy in der Hand, Display dunkel.

Ich wollte Luca schreiben. Irgendwas.

Nicht mal viel. Vielleicht nur: „Alles okay?“ Oder: „Sorry, wenn das heute komisch war.“

Aber ich tat es nicht.

Ich starrte auf mein Spiegelbild im Fenster, sah nur Schemen. Und fragte mich: Wie lange dauert es, bis ein Gerücht zur Wahrheit wird – nur weil niemand widerspricht?

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