Sich als jemand auszugeben, der man nicht ist, kann kompliziert werden, auch wenn es nicht sofort offensichtlich ist. Anfangs kann es sogar wie eine Erleichterung erscheinen. So erging es Mia.
Mia ist das Mädchen, das man sich als Partnerin wünscht. Sie ist hübsch, selbstbewusst und intelligent, aber nicht einschüchternd. Sie ist die Art von Mädchen, die Eltern sofort gefallen würde.
Mia ist wirklich ein nettes, witziges und charmantes Mädchen. Ihre Zöpfe sind immer perfekt, ihre Nägel sind bunt und ihr Lachen ist ansteckend.
Wir kennen uns seit der sechsten Klasse. Damals hat sie mir einen Kleberstift geliehen, und zwei Wochen später habe ich sie gefragt, ob wir zusammen auf den Wandertag gehen. Ich meinte es als Freunde, aber das reichte schon, um Gerüchte zu schüren.
Ich habe die Gerüchte nie wirklich abgestritten.
Es war einfacher, sich in diese Vorstellung einzufügen, als sie zu zerstören. Mia mochte mich, und ich mochte sie auch – irgendwie. Vielleicht nicht so, wie sie es verdient hätte, aber genug, um die Rolle zu spielen. Ich hoffte, dass sich unsere Gefühle irgendwann entwickeln würden, aber das war nicht der Fall.
Letzten Winter, als es draußen früh dunkel wurde und wir öfter telefonierten als sonst, fragte Mia mich: „Was sind wir eigentlich?“ Ich war feige, verwirrt und überfordert, also antwortete ich: „Ich weiß nicht. Vielleicht… mehr als Freunde?“
Ich konnte ihr Lächeln hören, obwohl sie kein Wort sagte. In meinem Bauch war da dieses Ziehen, kein schönes Kribbeln, sondern eher so ein schlechtes Gefühl-Knoten. Aber ich ignorierte es, weil ich wollte, dass etwas in mir normal ist.
Wir trafen uns häufiger. Kino, Café, Spaziergänge durch die Stadt. Ich hielt ihre Hand, als ob es das wäre, was man tut. Ich küsste sie einmal, zaghaft und flüchtig, wie aus einem Film, bei dem man nicht weiß, ob man mitfühlen soll oder vorspulen. Sie war da, offen, ehrlich und bereit. Ich war es nicht.
Ich hatte nie den Mut, ihr zu sagen, dass ich nicht weiß, was ich will – oder wen. Als sie mir neulich in der Pause ein Foto zeigte, auf dem wir zusammen beim Schulfest zu sehen waren, sagte sie: „Wir sahen richtig cute aus, findest du nicht?“ Ich lächelte, nickte und hasste mich ein kleines Stück mehr.
Mia hat nichts falsch gemacht. Sie ist eine dieser Personen, die man nur einmal im Leben trifft – und dann entweder behält oder für immer vermisst. Aber sie verdient jemanden, der sie mit ganzem Herzen liebt. Nicht nur mit einem Viertel. Nicht mit dieser ständigen Unsicherheit, ob man überhaupt fähig ist, sie so zu lieben, wie sie es braucht.
Ich weiß, dass ich es ihr irgendwann sagen muss. Dass ich sie nicht verletzen will, aber auch nicht weiter lügen kann. Dass ich herausfinden muss, wer ich bin – ohne sie dabei mitzuschleifen.
Aber noch nicht heute. Noch nicht jetzt. Heute bleibe ich noch kurz in der Lüge. Weil sie sich wärmer anfühlt als die Wahrheit.
Ich hasse mich dafür.
Ich spiele mit
Ich spiele mit. Im großen Spiel, das alle spielen. Schule, Freundeskreis, Eltern, Erwartungen, Rollen – jeder spielt mit, als gäbe es nur diesen einen Weg, durchs Leben zu gehen. Und ich? Ich bin vielleicht einer der besten Mitspieler. Nicht, weil ich es besonders gut kann, sondern weil ich es besonders lange geübt habe.
Ich weiß genau, was man sagen muss, um nicht aufzufallen. Ich weiß, wann man lacht, damit es nicht seltsam wirkt. Ich weiß, wann man wegsieht, obwohl man eigentlich hinschauen will. Ich spiele mit. Jeden Tag.
Heute ist wieder so ein Tag. Der Stundenplan ist ein Albtraum: vier Stunden Mathe, eine Stunde Sport und zum krönenden Abschluss Deutsch bei Frau Weidel, die selbst bei Lyrikklausuren so klingt, als halte sie eine Gerichtsverhandlung. Aber ich lächle. Ich mache Witze mit den anderen Jungs. Ich klatsche ab, wenn jemand beim Basketball trifft, obwohl ich den Sport hasse. Ich lache, wenn jemand „Schwul“ als Beleidigung benutzt, auch wenn mein Magen sich dabei zusammenzieht wie ein nasser Schwamm. Ich bin Teil des Spiels.
Und ich gewinne – solange niemand merkt, dass ich nicht freiwillig mitmache.
In der Umkleide nach dem Sportunterricht ist es am schlimmsten. Zu viel nackte Haut, zu viele Blicke, die ich mir selbst verbiete. Ich sehe niemanden direkt an, ziehe mich schnell um und lache über dumme Sprüche, obwohl ich innerlich nur eins denke: Ich gehöre hier nicht hin. Nicht so. Nicht wie ich wirklich bin.
„Hey, warst du heute richtig motiviert!“, ruft mir Jonas zu. „Was war los? Wolltest du Mia beeindrucken?“ Alle lachen, und ich lache mit.
Aber was ist schlimmer als eine Lüge? Die Wahrheit.
Ich könnte sagen: „Nein, ich war einfach wütend auf mich selbst.“ Oder: „Ich laufe, um meine Gedanken zu vertreiben.“ Oder: „Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, aber ich weiß, dass ich mich nicht in Mia verliebt habe – obwohl ich es versucht habe.“
Aber ich sage nur: „Haha, vielleicht.“
Ich spiele mit. Nicht, weil ich will, sondern weil es sicher ist. Es ist einfacher, wenn alle glauben, du wärst wie sie. Es gibt Regeln im Spiel, und ich habe gelernt, wie man sich bewegt, ohne rauszufliegen.
In der Deutschstunde sollen wir einen kurzen Text schreiben. Thema: „Wer bin ich?“ Frau Weidel sagt, wir sollen ehrlich sein. Nicht für eine Note, nur für uns selbst. Ich starre auf das Blatt vor mir. Ich halte den Stift in der Hand, aber meine Finger fühlen sich fremd an. Ich schreibe: „Ich bin 16, gehe in die 11. Klasse, mag Musik, hasse Mathe, bin meistens müde und manchmal witzig.“
Ich schreibe nicht: „Ich bin jemand, der sich in die falschen Menschen verliebt. Der Angst hat, dass seine Eltern ihn nicht mehr ansehen können, wenn sie wissen, was in seinem Kopf vorgeht. Der sich selbst nicht leiden kann, weil er lügt, um geliebt zu werden.“
Ich schreibe nicht, was ich denke. Ich schreibe, was passt.
Am Ende der Stunde, als wir freiwillig vorlesen dürfen, meldet sich Luca. Sein Text ist wunderschön, persönlich und sogar mutig. Er sagt Sätze wie: „Ich weiß noch nicht, wer ich bin, aber ich weiß, wer ich nicht sein will.“ In diesem Moment spüre ich, wie mein Herz gegen meine Rippen hämmert, als wollte es sagen: Du auch?
Doch ich sage nichts. Ich klatsche, wie alle anderen. Ich lächle, wie alle anderen. Ich spiele mit.
Tief in mir frage ich mich jedoch: Wie lange noch?
***Laden Sie NovelToon herunter, um ein besseres Leseerlebnis zu genießen!***
14 Episoden aktualisiert
Comments