Man sagt, beste Freunde wissen alles. Dass du müde bist, bevor du selbst merkst, dass du Pause brauchst. Dass du traurig bist, auch wenn du versuchst zu lächeln. Dass du jemanden magst, noch bevor du dich überhaupt traust, es zu denken.
Aber mein bester Freund weiß nichts. Nicht das Wichtigste. Nicht das Ehrlichste. Nicht das, was mich seit Monaten auffrisst.
Er heißt Leo. Seit der Grundschule hängen wir zusammen. Wir haben Fußball auf dem Bolzplatz gespielt, LAN-Partys in seinem Keller organisiert und endlos lange Gespräche über Serien, Games, Lehrer und das Leben geführt. Er war immer da – konstant, loyal und unkompliziert.
Und ich? Ich war nie ganz ich. Nicht, weil ich ihm nicht vertraue. Sondern weil ich zu viel Angst habe, dass Vertrauen nicht reicht. Weil ich nicht weiß, wie jemand reagiert, wenn du plötzlich nicht mehr die Rolle spielst, in der er dich liebt.
Leo ist der Typ Freund, der sich über nichts länger als zwei Minuten aufregt. Er verzeiht schnell, diskutiert fair und hat immer Snacks dabei. Und trotzdem – oder gerade deshalb – hab ich es ihm nie gesagt.
Nicht, dass ich auf Jungs stehe. Nicht, dass ich keine Ahnung habe, was ich überhaupt fühle. Nicht, dass mein Herz manchmal aussetzt, wenn Luca mich anschaut. Nicht, dass ich nachts mit Kopfhörern im Ohr da liege und mich frage, wie lange ich das noch verstecken kann.
Heute saßen wir zusammen bei ihm im Zimmer, Pizza auf dem Boden, Controller in der Hand. FIFA. Standard. Er meckerte über Abseitsregelungen, ich nickte abwesend.
„Alles okay bei dir?“, fragte er plötzlich.
Plötzlich erstarrte ich. Einen Moment lang dachte ich, er ahnt etwas. Aber seine Stimme war locker, ohne jede Spur von Misstrauen. Nur echte Sorge war zu hören.
„Klar“, antwortete ich. „Du bist in letzter Zeit einfach… anders.“
„Müde“, fügte ich hinzu.
Wie oft kann man dieses Wort benutzen, bis es jede Bedeutung verliert?
Er ließ nicht locker. „Hat es etwas mit Mia zu tun?“ Ich lachte. „Warum sollte es?“
„Keine Ahnung. Irgendetwas ist doch. Wenn du Stress hast oder so – du kannst es mir sagen.“
Da war er, der Moment. Der kleine Spalt in der Tür, durch den ich hätte treten können. Ich hätte einfach nur tief durchatmen und sagen können: „Leo, ich bin vielleicht nicht der, für den ihr mich haltet.“ Oder: „Ich glaube, ich steh auf Jungs.“ Oder: „Ich steh auf niemanden.“ Oder: „Ich steh auf Luca.“ Oder vielleicht auch nur auf die Idee, endlich ehrlich zu sein.
Aber ich tat es nicht. Ich schluckte, griff nach der Cola und sagte: „Echt, alles gut. Nur zu viel Schule gerade.“
Er glaubte mir. Natürlich. Warum sollte er mir nicht glauben?
Und das war das Schlimmste. Dass ich lügen konnte, ohne dass er es merkt. Dass ich ihn so gut kenne, dass ich weiß, was ich sagen muss, damit er nicht weiter fragt. Dass ich mich so sehr verstelle, selbst bei dem Menschen, der mich besser kennt als jeder andere.
Später, als ich schon gehen wollte, klopfte er mir auf die Schulter. „Wenn du irgendwas brauchst, sag’s einfach. Okay?“ Ich nickte.
Ich sagte nicht, dass ich ihn brauche.
Nicht mehr so, wie früher – als Freund, als Spiegel, als Schutz. Ich brauche ihn jetzt auf eine Weise, die er nicht versteht, denn ich halte ihn auf Abstand, während in mir alles brennt.
Mein bester Freund weiß nichts. Und das ist nicht seine Schuld. Es ist meine.
Ich weiß nicht, ob unsere Freundschaft stark genug ist, um meine Wahrheit zu ertragen. Ich fürchte, der Moment, in dem ich ehrlich bin, könnte der Moment sein, in dem alles zerfällt.
Und doch frage ich mich, während ich im Dunkeln nach Hause laufe, die Hände in den Taschen, den Kopf voller unausgesprochener Gedanken: Wie lange kann eine Freundschaft bestehen, wenn einer ständig lügt?
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