»Man merkt immer erst zu spät, wenn man verfolgt wird.« Das hatte Claire irgendwo gelesen, vielleicht in einem Krimi, den sie mal für eine Rezension überflogen hatte. Damals hatte sie gelacht. Verfolgt werden, das klang nach Paranoia, nach einer dieser überzogenen Geschichten, die man in schlechten Filmen sieht. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Es war kurz nach Mitternacht, und die Stadt draußen war still. Stiller, als sie sein sollte. Claire saß am Küchentisch, die Laptopanzeige war dunkel, aber der USB-Stick steckte noch immer in der Buchse. Er schien sie anzusehen, ein stummer Zeuge von etwas, das sie noch nicht ganz verstand. Seit dem Anruf hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte es nicht erklären, nicht in Worte fassen, aber es war da – ein Gewicht in ihrem Nacken, ein Ziehen in ihrer Brust, wie eine unsichtbare Hand, die sie ständig berührte. Sie versuchte, es zu ignorieren, aber das war leichter gesagt als getan. Sie stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge einen Spalt weit auf. Draußen war die Straße in einen kalten, gelblichen Schein getaucht, den die Straßenlaternen ausstrahlten. Ihr Blick glitt nach links, dann nach rechts. Nichts. Keine Autos, keine Fußgänger. Nur eine Katze, die über die Straße huschte, und die flackernde Laterne am Ende des Blocks. „Du wirst paranoid“, murmelte sie und ließ die Vorhänge wieder zu. Doch das Gefühl blieb. Sie machte das Licht in der Küche aus und lehnte sich an die Wand. Es war eine dumme Angewohnheit, die sie sich irgendwann angewöhnt hatte: Licht aus, Ohren auf. Sie hörte das Summen des Kühlschranks, das leise Ticken der Wanduhr. Und dann... Da war es. Ein Geräusch, kaum wahrnehmbar, wie ein Schuh, der leise auf Beton tritt. Claire hielt den Atem an. Vielleicht war es nur die Katze von vorhin. Oder vielleicht... Ihr Blick wanderte zum Türspion. Der Gedanke, einfach nachzusehen, lag auf der Hand, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, die drei Schritte zur Tür zu gehen. Stattdessen schlich sie ins Wohnzimmer, die nackten Füße so leise wie möglich, und schaute durch den Spalt der Vorhänge. Der Schatten stand genau da, wo sie ihn erwartet hatte – direkt unter der flackernden Laterne. Eine Gestalt, dunkel, groß, mit einem langen Mantel. Der Kopf war gesenkt, sodass sie keine Details erkennen konnte. Der Mann stand einfach nur da, regungslos, wie ein Denkmal, das jemand mitten auf der Straße vergessen hatte. Claire spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie schloss die Vorhänge wieder, presste ihren Rücken gegen die Wand und zwang sich, tief einzuatmen. Es war nur ein Typ. Vielleicht ein Obdachloser. Vielleicht jemand, der auf ein Taxi wartete. Aber in ihr wuchs das Gefühl, dass das nicht stimmte. Das Handy vibrierte auf dem Küchentisch, ein plötzlicher, grausamer Ton, der die Stille durchbrach. Claire zuckte zusammen, ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sicher war, es durch die Wände hören zu können. Sie stürzte zum Tisch, schnappte sich das Handy und sah die Anzeige: Unbekannte Nummer. Sie wollte nicht abnehmen. Sie wusste, dass sie nicht sollte. Aber etwas – Neugier, Angst, vielleicht Dummheit – zwang sie, den Anruf anzunehmen. „Hallo?“ Ihre Stimme klang dünn, wie die einer Fremden. „Warum haben Sie die Vorhänge zugezogen?“ fragte die Stimme am anderen Ende. Claires Beine wurden weich, und sie musste sich am Tisch abstützen, um nicht umzukippen. „Wer... wer ist da?“ flüsterte sie. „Das spielt keine Rolle“, sagte die Stimme. Ruhig. Fast freundlich. „Aber Sie sollten wissen, dass ich nicht allein bin.“ Claire warf einen Blick zurück zum Fenster. Ihr Verstand raste. Nicht allein? Was sollte das bedeuten? Sie drückte das Handy an ihre Brust, schlich wieder zum Fenster und zog die Vorhänge einen Millimeter weit auf. Der Mann unter der Laterne war verschwunden. Aber jetzt waren es zwei Schatten – einer links, einer rechts, beide direkt vor ihrem Haus. Sie standen in den dunklen Ecken des Gehwegs, ihre Gesichter verborgen, ihre Gestalten wie leere Löcher im Licht der Stadt. „Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte Claire ins Telefon, ihre Stimme zitterte vor Wut und Angst. Die Stimme am anderen Ende lachte leise. „Es ist zu spät, Claire. Das wussten Sie, als Sie den USB-Stick eingesteckt haben.“ „Was wollen Sie von mir?“ Eine Pause. Dann: „Das Gleiche, was jeder von Ihnen will: Gehorsam. Geben Sie uns, was Sie haben, und wir verschwinden.“ Claire schüttelte den Kopf, obwohl der Anrufer das nicht sehen konnte. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ „Doch, das wissen Sie.“ Die Stimme wurde schärfer. „Aber Sie haben eine Wahl, Claire. Geben Sie die Datei heraus, oder wir kommen rein und holen sie uns.“ Dann wurde die Leitung tot. Claire sank auf den Stuhl, die Hände zitterten so stark, dass sie das Handy fast fallen ließ. Die Schatten draußen waren verschwunden, oder vielleicht waren sie noch da, irgendwo im Dunkeln, wo sie sie nicht sehen konnte. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie wusste, dass dies kein Spiel war. Es war ein Krieg. Und sie war die einzige, die noch auf ihrer Seite stand.
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