Der Umschlag

Claire Bennett war keine Heldin. Sie war eine Journalistin. Und wenn sie ehrlich war, dann war sie nicht einmal besonders gut darin. Zumindest nicht mehr. Früher hatte sie Träume gehabt, große Pläne: investigative Reportagen, Enthüllungsskandale, Pulitzers und der ganze Kram. Jetzt kämpfte sie darum, ihre Miete zu zahlen, während sie für einen lokalen Nachrichtenblog über Charity-Galas und Straßensperrungen schrieb. An diesem Dienstagabend war ihr Wohnzimmer ein chaotisches Schlachtfeld aus leeren Kaffeetassen, zerknüllten Notizen und einer Katze, die entschieden hatte, dass ihr Laptop der perfekte Schlafplatz war. Claire saß auf dem Boden, die Beine unter sich verschränkt, und versuchte, einen halbwegs brauchbaren Artikel über den neuen Food-Truck im Stadtzentrum zu schreiben. Dann klopfte es an ihrer Tür. Es war kein lautes, aufdringliches Klopfen, sondern ein leises, fast zögerliches Geräusch, wie ein Kind, das sich nicht sicher war, ob es jemanden wecken sollte. Claire schaute auf die Uhr. 22:47 Uhr. Nicht die Zeit für unerwartete Besuche. »Vielleicht ein Nachbar«, murmelte sie, stand auf und schob die Katze vom Laptop, was ihr ein beleidigtes Fauchen einbrachte. Barfuß und widerwillig schlurfte sie zur Tür. »Wer ist da?« fragte sie, ihre Hand am Türknauf. Keine Antwort. Sie öffnete den Spion und sah – nichts. Kein Mensch, kein Schatten, nur der leere Flur. Einen Moment lang zögerte sie. Etwas an der Stille draußen fühlte sich falsch an. Aber dann dachte sie, dass sie sich wahrscheinlich nur überarbeitete. Sie öffnete die Tür, gerade weit genug, um hinauszuschauen. Der Flur war tatsächlich leer, bis auf einen braunen Umschlag, der sorgfältig vor ihrer Tür lag. Kein Name, kein Absender, nichts. Er sah alt aus, das Papier vergilbt, als hätte er Jahre in einem feuchten Keller verbracht. »Was zur Hölle?« Sie beugte sich vor, hob den Umschlag auf und spürte sofort das Gewicht. Es war schwerer, als sie erwartet hatte, als wäre etwas Solides darin – ein Buch vielleicht oder ein Stapel Papiere. Claire schloss die Tür hinter sich, verriegelte sie instinktiv und trug den Umschlag zum Küchentisch. Ihr Herz klopfte schneller, und sie konnte nicht sagen, warum. Es war nur ein Umschlag, nichts weiter. Wahrscheinlich ein Irrtum. Vielleicht ein Nachbar, der die Wohnung verwechselt hatte. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es mehr war. Sie setzte sich, starrte den Umschlag an, als könnte er ihr erklären, warum er hier war. Ihre Finger tasteten über das raue Papier, suchten nach Hinweisen. Am unteren Rand war etwas mit Tinte geschrieben, die halb verblasst war: »Vertraulich.« Claire lachte leise. »Natürlich«, murmelte sie. Mit einem Küchenmesser schnitt sie vorsichtig die Kante auf. Sie hielt den Atem an, als sie den Umschlag leerte. Ein dicker Stapel Papiere fiel auf den Tisch, ordentlich zusammengehalten von einer roten Klammer. Unter dem Stapel lag ein USB-Stick, schwarz und unscheinbar, aber irgendwie unheimlich. Die Papiere waren alt, aber sauber. Der Geruch von Staub und Tinte stieg ihr in die Nase. Sie blätterte durch die ersten Seiten und sah Namen. Hunderte von Namen, aufgelistet wie in einer Tabelle. Neben jedem Namen standen Zahlen, Orte, und in manchen Fällen Kommentare, die so kurz wie kryptisch waren:

»Neutralisiert.«

»Abgefangen.«

»Rekrutiert.«

Ihre Augen weiteten sich, und eine Welle von Unbehagen überkam sie. Was auch immer sie da in Händen hielt, es war kein gewöhnlicher Bürobericht. Es war – wie nannte man so etwas? Eine Liste? Eine Jagd? Am Ende der ersten Seite stand ein Name, den sie kannte: Senator Richard Caldwell. Ein roter Kreis war um ihn gezogen, daneben das Wort: »Verloren.« Claire schluckte schwer. Sie hatte den Namen heute in den Nachrichten gehört. Der Senator war am Abend zuvor tot aufgefunden worden – ein offensichtlicher Selbstmord, so hatte es zumindest geheißen. »Was zum Teufel ist das?« flüsterte sie und schob die Papiere weg, als könnte sie dadurch die Antwort bekommen. Ihr Blick wanderte zu dem USB-Stick. Er lag dort, stumm und bedrohlich, als wartete er darauf, dass sie den nächsten Schritt machte. Claire wusste, dass sie ihn nicht anschließen sollte. Alles an diesem Umschlag schrie nach Gefahr. Aber sie war Journalistin. Und Journalisten waren bekannt dafür, dass sie Gefahren ignorierten, wenn sie einen guten Hinweis witterten. »Nur kurz schauen«, murmelte sie und steckte den Stick in ihren Laptop. Der Bildschirm flackerte, dann erschien ein einzelnes Symbol: eine rote Datei mit dem Titel »The Red File«. Claire zögerte. Ihr Finger schwebte über dem Touchpad, und für einen Moment dachte sie daran, den Stick einfach zu entfernen, die Papiere zurück in den Umschlag zu legen und alles in den Müll zu werfen. Aber dann klickte sie. Das Erste, was sie sah, waren Fotos. Ein Mann, gefesselt und blutend, in einem dunklen Raum. Ein Dokument, das mit dem Siegel der Regierung versehen war. Eine Liste von Zahlen, die aussahen wie Kontostände, astronomisch hoch. Und dann, in fetten, roten Buchstaben, ein Satz: »Wenn Sie das lesen, sind Sie bereits in Gefahr.« Ein Klopfen an ihrer Tür ließ Claire vor Schreck aufspringen. Dieses Mal war es kein zögerliches Klopfen. Es war laut, entschlossen, bedrohlich. Sie starrte zur Tür, das Herz hämmerte in ihrer Brust. »Claire Bennett?« rief eine tiefe Stimme von draußen. Sie sagte nichts. Sie bewegte sich nicht. Sie atmete kaum. Das Klopfen wurde stärker. Dann verstummte es. Sie wartete, bis ihre Ohren schmerzten vor Anspannung. Als sie schließlich durch den Spion blickte, war der Flur wieder leer. Aber sie wusste, dass sie nicht mehr allein war. Und dass dies der Anfang von etwas war, das sie niemals stoppen konnte.

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