Ep.11

AUS HENRYS SICHT

Ich war sprachlos. Das Baby weinte und schrie manchmal sogar richtig. Es schien, als sei es ziemlich aufgebracht und ich hatte nicht den blassesten Schimmer, warum.

Und dann begannen die ersten Angriffe. Es griff nach meinen Haaren und fing an zu ziehen.

„Hey! Hey! Was soll das denn? Wir haben uns gerade erst kennengelernt! Warum so aggressiv?“

Ich befreite mein Haar aus seinem Griff, aber damit waren die Angriffe nicht vorbei. Es griff nach meinem Gesicht, drückte meine Wange und begann, in mein Kinn zu beißen.

„Aua! Was soll das denn?? Das tut weh! Hast du denn für dein Alter nicht schon viel zu viele Zähne?“

Ich musste es von mir wegziehen. Ich packte es unter seinen Armen, hielt es auf Abstand, während es wild um sich trat.

„Frau Hilda! Ich brauche Hilfe!“, schrie ich und versuchte, dieser Situation zu entkommen.

„Was ist denn los, Henry?! Was schreist du denn so? Ich wollte dem Kleinen nur seine Flasche holen.“

„Was?!“

„Seine Flasche! Mein Gott, halt das Kind nicht so! Kein Wunder, dass es so weint!“, erschien sie schon schimpfend auf der Bildfläche.

„Aber es hat mich gebissen! Und sehen Sie sich das an, ich bin vollgesabbert! Stimmt etwas nicht mit diesem Kind? So sollten sich Babys doch nicht verhalten. Die sind doch nicht…“

„Weinerlich? Doch, Henry, Babys weinen. So kommunizieren sie. Wir Erwachsenen weinen ja schließlich auch, wenn uns etwas nicht passt, weißt du? Gib ihn her.“

Ich war so erleichtert, als Frau Hilda mir das Baby abnahm. Sie nahm es in den Arm und wiegte es, um es zu beruhigen.

„Ich wusste nicht, dass man das machen muss. Es ist wohl ziemlich schwierig, auf Babys aufzupassen.“

„Es ist nicht so schwer, wie du denkst. Viel schwieriger ist es, auf erwachsene Babys aufzupassen, Henry.“

Ich hatte das Gefühl, das war ein Seitenhieb gegen mich, aber ich sagte nichts dazu. Ich hatte das Gefühl, in dieser Hinsicht lieber den Mund zu halten. Lieber kein Öl ins Feuer gießen.

Frau Hilda setzte sich hin und versuchte, dem Baby die Flasche zu geben, aber es wehrte sich dagegen und drehte den Kopf weg.

„Ich glaube, es hat keinen Hunger. Vielleicht will es etwas essen. Es hat mich wirklich gebissen. Vielleicht dachte es, ich wäre ein saftiges Steak.“

„Babys essen kein Steak, Henry. Und ein Zahnfleischbiss tut nicht weh.“

„Das war nicht nur das Zahnfleisch! Da war ein spitzer Zahn, da bin ich mir sicher. Ich hab es gespürt.“

Ich ging impulsiv zu Frau Hilda, beugte mich hinunter und versuchte, dem Baby den Mund zu öffnen. Es wehrte sich, es schien ein sehr gestresstes Kind zu sein, aber dann ließ es mich schließlich einen Blick erhaschen.

Ich blickte näher, um es mir genauer anzusehen, und da waren sie: Man konnte sie zwar kaum sehen, aber da unten kamen zwei Zähne zum Vorschein.

„Er hat doch Zähne, Frau Hilda! Sehen Sie doch!“

Sie zog das Baby zu sich heran und sah nach. Dann sagte sie: „Du meine Güte! Stimmt! Da kommen die ersten Zähnchen! Ist das nicht süß? Los, Henry, nimm ihn!“

„Das überlasse ich lieber Ihnen!“

„Nimm ihn schon, Henry!“ Ich versuchte, zurückzuweichen, aber Frau Hilda drückte mir das Baby wieder in die Arme, sodass ich keine andere Wahl hatte.

Sie rannte davon und kam mit einer Brille auf der Nase und ihrem Handy in der Hand zurück.

„Los, Henry! Zeig mir die Zähnchen vom Baby, ich will ein Foto machen. Seine Mutter wird sich freuen, wenn sie erfährt, dass Benni schon Zähne bekommt. Deswegen ist er auch so unleidlich, der Ärmste.“

Ich verdrehte die Augen. Ich hatte kein Interesse daran, bei dieser rührseligen Szene mitzumachen. Aber was sollte ich tun?

Frau Hilda veranstaltete eine regelrechte Fotosession. Das Baby wand sich hin und her, sodass die meisten Fotos nichts wurden. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das perfekte Foto im Kasten hatte.

Es dauerte so lange, bis das Baby schließlich ruhiger wurde und seinen Kopf auf meine Schulter legte. Dort blieb es ganz ruhig liegen, als hätte es bei mir einen sicheren Hafen gefunden. Es war ein komisches Gefühl.

„Na, jetzt, wo er ruhig ist, esse ich schnell mein Mittagessen zu Ende.“

„Nein, Frau Hilda…“ Bevor ich protestieren konnte, war sie schon verschwunden.

Ich ging auf und ab und überlegte, was ich tun sollte. Ich überlegte, das Baby in sein Bettchen zu legen, aber wenn ich es auch nur versuchte, machte es ein Gesicht, als würde es gleich losweinen, also ließ ich es bleiben und ertrug es, dass es mein neues Jackett vollsabberte.

„Mein Gott, ich bin nur hier, um mich nach Camille zu erkundigen, nicht um Babysitter zu spielen“, sagte ich und wusste nicht, was ich sonst tun sollte.

„Henry!“, hörte ich Frau Hilda rufen. Ich folgte ihrer Stimme mit schnellen Schritten in die Küche.

„Haben Sie jetzt mit dem Mittagessen fertig?“, fragte ich, als ich dort ankam.

„Nein, aber geh schon mal ins Wohnzimmer. Du kannst dich doch nicht die ganze Zeit auf den Beinen halten.“

„Frau Hilda, es ist nur so … ich habe heute noch Termine.“ In Wirklichkeit hatte ich alle abgesagt.

„Dann sag sie ab. Denkst du etwa nicht, dass Benni wichtiger ist?“

„Natürlich nicht!“

„Doch, natürlich ist er das! Spürst du denn gar nichts, wenn du ihn ansiehst? Nicht das Geringste?“

Ich hielt das Baby für ein paar Sekunden von mir weg, um in sein Gesicht zu sehen. Seine Augen waren rot vom Weinen und es wirkte irgendwie traurig. Ja, es tat einem schon irgendwie leid …

„Warum musste er sich denn schon so früh einer Operation unterziehen? Er muss doch Schmerzen haben.“

„Weil es viel schmerzhafter wäre und die Genesung viel länger dauern würde, wenn man damit warten würde, bis er größer ist. Und er ist wahrscheinlich etwas quengelig, weil die Zähnchen kommen. Das tut nämlich weh. Henry, er hat sich bei dir beruhigt. Willst du ihn jetzt wirklich so zurücklassen?“

Ich atmete resigniert aus. Irgendwie konnte ich den kleinen Kerl ja verstehen. Ich wusste, wie es war, wenn man nicht die Worte fand, um auszudrücken, was man fühlte.

„Na schön, ich bleibe noch ein bisschen.“

„Wunderbar!“

Eigentlich wollte ich ja nur „ein bisschen“ bleiben, aber am Ende verbrachte ich den ganzen Tag dort. Das Baby wollte nicht von meinem Schoß herunter und machte mich so ziemlich zu seinem Sklaven. Ich bot ihm Spielzeug an, aber es interessierte sich nicht dafür. Es wollte einfach nur an meinem Kinn herumkauen. Und Frau Hilda verteidigte mich nicht einmal gegen ihn. Sie zwang mich, mir gründlich das Gesicht zu waschen, nur damit das Baby mich dann weiter als Beißring benutzen konnte.

Als ich nach Hause kam, war ich erschöpft. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einen ganzen Tag lang Babysitter spielen würde. Ich weiß, Frau Hilda hat das mit Absicht gemacht, damit ich nicht mehr wiederkomme und nicht mehr nach Camille frage. Aber da irrt sie sich. Ich hatte vor, so lange wiederzukommen, bis sie mir sagte, wo ihre Tochter war.

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Comments

Gabriele von Rabenberg

Gabriele von Rabenberg

interessante Geschichte, spannend geschrieben

2025-03-12

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