Darf Ich ...

Darf Ich ...

1. KAPITEL

Ein schroffer, heller Lichtstrahl durchschnitt Ronnis Träume. Dann der Klang einer Trommel – einer riesigen Trommel, auf der jemand herumhämmerte.

     Mit einem unwilligen Stöhnen drehte Ronni sich im Halbschlaf auf die andere Seite, wobei ihr Gedankenfetzen durchs Hirn schossen: Blitz. Donner. Ein Sturm zieht auf …

     Erneut ein harter Blitz, wieder gefolgt von unheilvollem Trommeln. Ronni schlug die Augen auf – und sah die Gestalt neben ihrem Bett.

     Ein Einbrecher, dachte sie. Da ist ein Einbrecher in meinem Schlafzimmer.

     Ein sehr kleiner Einbrecher.

     Urplötzlich, so als habe irgendjemand ein Loch in den Himmel gerissen, kam der Regen. Heftig prasselte er aufs Dach, und eine unvermittelte Sturmbö peitschte ihn gegen die Terrassentür, die auf den kleinen Innenhof hinter dem Schlafzimmer hinausführte, sodass es sich anhörte wie feiner Kies, der an die Glasscheiben geworfen wurde. Noch ein gleißend blendender Blitz, der durch die zarten Gardinen aufzuckte und das Zimmer, ebenso wie den kleinen Eindringling, hell erleuchtete.

     Er ist nicht nur klein, dachte Ronni, sondern auch jung. Zu jung, um in etwas Kriminelles verwickelt zu sein. Acht oder neun vielleicht. Bekleidet mit einem gestreiften Schlafanzug und einem dunklen Morgenmantel stand er, wie sie mit einem Blick auf den Wecker feststellte, um halb zwei Uhr nachts an ihrem Bett.

     Auf einmal jedoch dämmerte es ihr. Dies war gar kein Einbrecher, sondern Ryan Malones ältester Sohn. Er war ihr am Nachmittag vorgestellt worden, als sie den Hausschlüssel abgeholt hatte. In dem grellen Lichtschein weiteten sich die blauen Augen des Jungen. Er hatte erkannt, dass Ronnis Augen offen waren.

     Ein tosender Donnerschlag krachte, rollte tief grollend davon und erstarb in dem wolkenbruchartigen Regen. Der Junge wich zurück, sobald der Raum wieder in Dunkel gehüllt war, und hastete auf die Terrassentür zu.

     „Warte!“, rief Ronni.

     Der Junge erstarrte.

     „Bitte.“ Ihr Ton wurde sanfter. „Es ist schon gut. Bleib da.“

     Zwar wandte der Junge sich nicht um, lief aber auch nicht fort. Langsam streckte Ronni die Hand aus und knipste die Nachttischlampe an. Der Junge zuckte zusammen, blieb jedoch, wo er war.

     „Andrew.“ Ronni sprach leise, um nicht bedrohlich zu wirken, und setzte sich auf. „So heißt du doch, nicht wahr?“

     Der Junge straffte die Schultern, holte tief Luft und schaute noch immer entschlossen in die entgegengesetzte Richtung. „Ich heiße Drew“, korrigierte er. „Mein Vater und meine Großmutter nennen mich immer noch Andrew. Ich sage ihnen ständig, dass ich jetzt Drew heiße, aber sie vergessen es immer wieder.“

     „Also gut, dann Drew“, sagte Ronni. „Das gefällt mir … Drew.“

     Mit einem tiefen Seufzer drehte der Junge sich schließlich zu ihr um. Sie musterten einander, während das Unwetter weiterging.

     „Was machst du hier mitten in der Nacht, Drew?“, fragte Ronni.

     Der Junge biss sich kurz auf die Oberlippe und antwortete dann ernsthaft: „Ich konnte nicht schlafen. Ich musste nachgucken, ob ich bei Ihnen sicher sein kann.“

     Ronni runzelte die Stirn. „Sicher sein?“

     „Ja.“ Trotzig hielt er den Kopf empor. „Dass es Ihnen gut geht. Und dass wegen Ihnen nichts passiert … hier in dem kleinen Haus nicht, und auch nicht drüben in unserm Haus.“ Er blickte zur Glastür.

     „Hast du irgendeinen Grund zu glauben, dass es mir vielleicht nicht gut geht?“

     „Nein. Ich weiß nicht. Ich bin der Älteste, das ist alles. Ich muss aufpassen. Aber es war wahrscheinlich eine blöde Idee.“

     Er war zu weit entfernt, im Schatten.

     „Drew, ich kann dich kaum erkennen. Willst du nicht ein bisschen näher kommen?“

     Zögernd machte er drei Schritte auf Ronni zu. „Was ist denn?“

     Sie schob die Decke herunter und setzte sich auf die Bettkante. „Ich bin Ärztin, wusstest du das?“

     Der Junge nickte vorsichtig. „Ich habe Sie gesehen. Bei Dr. Heber. Er ist mein Doktor.“

     „Ja.“ Sie stand auf und nahm ihren Bademantel vom Ende des Bettes. „Und weißt du auch, dass man ein feierliches Gelübde ablegt, wenn man Arzt ist?“

     Seine Augen verengten sich. „Ein feierliches Gelübde?“

     Rasch schlüpfte sie in den Frotteemantel, holte ihren dicken Zopf unter dem Kragen hervor und knotete den Gürtel. „Weißt du, was das bedeutet?“

     Er zog die dunklen Brauen zusammen. „Feierlich – das ist wie … sehr ernst, und Gelübde ist so was wie ein Versprechen, was man niemals brechen darf.“

     „Genau. Ein ernstes, niemals zu brechendes Versprechen, dass man vor allem ‚niemals irgendwelchen Schaden zufügt.‘ Und das bedeutet, noch wichtiger, als jemandem zu helfen, ist es, niemandem wehzutun.“ Ronni setzte sich wieder aufs Bett und klopfte auf den Platz neben sich.

     Einen Moment lang zögerte der Junge noch, dann gab er nach. Er setzte sich, allerdings nicht direkt neben sie, sondern mehr ans Bettende.

     „Verstehst du, was ich meine, Drew?“

     „Ja, aber mir brauchen Sie nicht zu helfen, weil ich gar nicht krank bin.“

     „Das sehe ich. Aber was ich damit sagen will, ist, dass ich als Ärztin einen Eid geschworen habe, anderen Menschen nicht wehzutun, egal, was passiert.“

     „Einen Eid?“

     „Das ist dasselbe wie ein Gelübde.“

     Aufmerksam sah er sie an und meinte schließlich: „Na ja, wenn Sie das versprochen haben, müssen Sie es wohl halten.“

     „Das tue ich. Es ist ein Versprechen, das ich niemals brechen werde.“

     Er fuhr fort, sie unverwandt zu betrachten. Er sah so … würdevoll aus … so jung. Am liebsten hätte Ronni den Arm um ihn gelegt, doch sie spürte seine tief sitzende Zurückhaltung und unterließ es deshalb.

     „Drew, wie bist du hier reingekommen?“

     Er rutschte ein wenig unbehaglich hin und her, ehe er gestand: „Meine Mom hat immer einen Schlüssel unter dem Blumentopf da draußen gehabt.“ Er wies auf die Terrassentür. „Ich hab ihn dorthin zurück getan.“ Er stieß einen Seufzer aus. „Aber Sie sagen jetzt bestimmt, ich hätte ihn nicht nehmen sollen, oder?“

     „Das stimmt. Das war nicht in Ordnung.“

     Der Junge schnüffelte ein wenig und straffte erneut die schmalen Schultern. „Na ja, tut mir leid. Ich werde es bestimmt nicht wieder tun.“ Er stand auf. „Und jetzt gehe ich einfach nach drüben zurück.“

     Ronni erhob sich ebenfalls. „Gut. Gehen wir.“

     Sie dachte an den Vater des Jungen, ihren gegenwärtigen Gastgeber. Ryan Malone war geschäftsführender Direktor des Honeygrove Memorial-Krankenhauses und ein imponierender Mann. Bisher war sie ihm nur ein einziges Mal begegnet, bei einem Wohltätigkeitsessen vor zwei Wochen. Marty Heber, einer der beiden anderen Kinderärzte in ihrer Gemeinschaftspraxis, hatte sie vorgestellt. Irgendwie war das Gespräch auf Ronnis neue Eigentumswohnung gekommen, die nicht mit Auslauf ihres Mietvertrages bezugsfertig sein würde.

     „Ich habe ein Gästehaus. Das können Sie gerne solange nutzen“, hatte Ryan Malone gesagt und ihr eine goldbedruckte Visitenkarte gegeben. „Rufen Sie meine Sekretärin im Memorial an. Sie wird die Details mit Ihnen besprechen.“

     Seitdem hatte Ronni ihn nicht wieder gesehen. Seine Schwiegermutter hatte ihr das Häuschen eine Woche zuvor gezeigt und ihr gestern den Schlüssel ausgehändigt.

     Und jetzt war sie im Begriff, mitten in der Nacht einen ihr fremden Mann zu wecken, um ihm seinen Sohn zurückzubringen. Die Vorstellung gefiel ihr nicht sonderlich. Aber was blieb ihr anderes übrig?

     Offenbar gingen Drews Gedanken in eine ähnliche Richtung. „Meinem Vater wird das nicht gefallen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich alleine zurück gehe.“

     „Drew. Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann.“

     „Doch, das können Sie. Es muss doch keiner wissen, dass ich hier gewesen bin. Und ich schwöre, dass ich’s nie wieder tun werde.“

     Ronni bedachte den Jungen mit einem langen, geduldigen Blick. Drew erwiderte ihn mit einem bittenden Ausdruck in den Augen, aber Ronni blieb fest.

     Schließlich murmelte Drew: „Ach, na gut.“

     Sie lächelte ihm zu. „Gib mir eine Minute, ja? Ich will sehen, ob ich irgendwo Jacken und einen Schirm für uns finden kann.“

     Mit hängenden Schultern ließ er sich wieder auf die Bettkante fallen, während Ronni aus dem kleinen Wandschrank im Flur eilig ihren Trenchcoat und Gummistiefel herausholte. Ihr Schirm jedoch war nirgends zu sehen. Rasch kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, halb befürchtend, dass Drew ihre kurze Abwesenheit zur Flucht ausgenutzt haben könnte.

     Aber er war noch da. Ronni ging zu dem Stapel Kartons in der einen Ecke, suchte den mit der Aufschrift Oberbekleidung und zog ihren alten Anorak daraus hervor.

     „Hier, zieh den an“, sagte sie.

     Der Junge streifte sich den Anorak über den Kopf, und Ronni zog Stiefel und Trenchcoat an.

     „Was ich mit deinen Schuhen machen soll, weiß ich nicht“, meinte sie mit einem kopfschüttelnden Blick auf seine Hausschuhe.

     „Schon gut. Gehen wir.“ Der Junge schaute zu ihr auf, wobei die Anorakkapuze ihm fast bis zur Nasensitze reichte. Er sah so niedlich aus, dass Ronni ihr Lächeln verbergen musste.

     „Ich sehe albern aus, stimmt’s?“, fragte er.

     Du siehst zum Anbeißen aus, dachte sie, antwortete stattdessen aber: „Nein, ganz normal.“ Sie nahm die Taschenlampe aus der Nachttisch-Schublade. „Na, dann los.“

     Draußen hatte der Sturm nachgelassen. Blitz und Donner schienen auch vorbei zu sein. Nur der kalte Regen war so stark, dass er sich in kleinen Sturzbächen von den Zweigen der Rotdornbüsche und der Fichten ergoss. Die Terrassenlampen an Rückseite des Haupthauses leuchteten ihnen den Weg.

     Den Kopf eingezogen, schlug Ronni den Mantelkragen hoch. „Komm, wir laufen.“

     Gemeinsam rannten sie über die kleine Innenhof-Terrasse, durch das Gartentor und die lange Auffahrt entlang, die zwischen dem Gästehäuschen und dem hübschen, einstöckigen Klinkerhaus im Kolonialstil verlief, in dem Ryan Malone mit seiner Familie lebte. Hinter dem Haupthaus ging es durch eine weitere Pforte und über den völlig durchgeweichten Rasen zur Hintertür, durch die sie hineingelangten.

     Ronni blieb stehen. „Und jetzt zeig mir die Vordertür.“

     „Wozu?“

     Sie knipste ihre Taschenlampe an. „Drew. Bitte. Ich versuche, mein Bestes zu tun, okay?“

     Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Ronni, eigentlich könnten Sie jetzt ruhig wieder zu dem Häuschen zurückgehen, wenn Sie wollen. Und ich kann …“

     Sie sah ihn nur an.

     Der Junge starrte einen Augenblick lang eigensinnig zurück und beklagte sich dann: „Aber wenn wir sie schon aufwecken müssen, warum können wir dann nicht …“ Schulterzuckend gab er sich geschlagen. „Aber geben Sie mir wenigstens die Taschenlampe, weil ich ja vorgehen muss.“

     Sie drückte sie ihm in die Hand. Drews Hausschuhe machten leise platschende Geräusche, während der Junge sie durch eine große Küche führte, durch ein Esszimmer mit einem großen Kirschholztisch und glänzendem Parkettfußboden, danach durch ein geräumiges, mit Orientteppichen ausgelegtes Wohnzimmer, bis sie schließlich die Vorderdiele erreichten, von der aus eine geschwungene Treppe nach oben ging. Das Licht von der Veranda schien sanft durch die facettierten Fensterscheiben zu beiden Seiten der breiten Eingangstür herein.

     „Da sind wir.“ Drew leuchtete Ronni mit der Taschenlampe ins Gesicht. „Und was machen wir jetzt?“

     „Gib mir das Ding.“ Sie nahm ihm die Taschenlampe ab und knipste sie aus.

     „Also, was machen wir jetzt?“, wiederholte der Junge ungeduldig.

     „Warten.“

     „Worauf?“

     „Bis ich wieder was sehen kann. Du hast mich geblendet.“

     „Oh. Entschuldigung.“

     „Macht nichts.“ Da ihre Augen sich mittlerweile wieder etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, trat sie auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie.

     Dann drückte sie auf den Klingelknopf. Eine melodische, in der Stille erschreckend laute Türglocke ertönte. Zur Sicherheit läutete Ronni noch einmal, schloss die Tür dann wieder und stellte sich abwartend neben Drew.

     „Das findet er bestimmt nicht gut“, flüsterte dieser ihr zu. „Er arbeitet unheimlich viel und braucht seinen Schlaf.“

     „Tja, daran hättest du früher denken sollen.“

     „Sie sollten ja auch gar nicht aufwachen“, murmelte Drew.

     „Das ist keine Entschuldigung dafür, sich mitten in der Nacht bei jemand anderem einzuschleichen. Und das weißt du genau.“

     „Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leid tut.“ Das klang wirklich zerknirscht.

     In diesem Moment ging oben an der Treppe das Licht an, und erschrocken blickten beide auf.

     Ryan Malone stand an der obersten Stufe, die Hand auf dem Lichtschalter. Sein Morgenmantel war dem seines Sohnes sehr ähnlich, sein dichtes schwarzes Haar war zerzaust, und seine Augenlider waren noch schwer vom Schlaf. Doch selbst jetzt, aus seinem Bett aufgeschreckt, machte er einen einschüchternd gebieterischen Eindruck – sogar im Pyjama.

     Langsam kam er die Treppe herunter und hielt dann inne.

     Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Aber offensichtlich hatte es etwas mit seinem Sohn zu tun, der anscheinend um diese Zeit in einem Gewitter draußen herumgewandert war.

     Die zierliche rothaarige Kinderärztin, die für den kommenden Monat sein Gästehaus benutzte, lächelte Ryan tapfer an. „Drew hat beschlossen, rüberzukommen und mich zu überprüfen.“

     Ihr Trenchcoat war vor Nässe dunkel auf den Schultern, und geblümte Schlafanzughosen, in wadenhohe Stiefel gesteckt, schauten unter dem Mantelsaum hervor. In ihrem ungebärdigen Haar glänzten Regentropfen. Zwar hatte sie es zu einem einzelnen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken herabhing, aber mehrere Strähnen waren daraus entwischt und hingen ihr nun in feuchten Korkenzieher-Locken um das fein geschnittene Gesicht.

     Sie war süß, viel zu süß. Es schien kaum möglich, dass eine Frau, die so jung aussah, bereits ein Medizinstudium, das praktische Jahr sowie die Assistenzzeit hinter sich hatte. Doch da waren noch ihre Augen – kluge, humorvolle Augen, unter denen kaum wahrnehmbare blaue Schatten lagen.

     Ryan richtete den Blick auf seinen Sohn, der eine offenbar geliehene, ebenfalls durchnässte Jacke trug. Andrew hielt den Kopf gesenkt, starrte auf seine von Wasser triefenden Hausschuhe und kaute an seiner Oberlippe.

     „Ryan, was ist los?“ Lily, seine Schwiegermutter, tauchte oben am Treppenabsatz auf. „Oh, je!“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Andrew, du bist ja tropfnass.“

     Ryan trat zur Seite, als Lily die Stufen herabgestürzt kam. „Sieh dich doch nur an. Was hast du bloß gemacht?“

     „Anscheinend hat er Dr. Powers einen Besuch abgestattet“, erklärte Ryan.

     „Wie bitte? Mitten in der Nacht, und bei diesem Wetter? So etwas sieht Andrew überhaupt nicht ähnlich.“ Lily sah von ihrem Schwiegersohn zu der Rothaarigen und wieder zurück, die Lippen ungläubig gekräuselt. Dann wandte sie sich an ihren Enkel und meinte in gekränktem Tonfall: „Andrew, ich kann nicht glauben, dass du so etwas tun würdest.“

     Der Junge sagte nichts, sondern hielt den Blick noch immer starr auf seine durchgeweichten Hausschuhe gerichtet und fuhr fort, seine Lippe zu malträtieren.

     Daher sagte Ryan: „Lily, es ist wirklich schon sehr spät. Bring ihn doch einfach jetzt ins Bett und lass es ihn am besten einmal überschlafen. Wir sprechen dann morgen darüber.“

     „Ja, natürlich.“ Sie streckte die Hand aus und winkte ungeduldig. „Komm mit, junger Mann.“

     Zwar hatte Andrew den Kiefer störrisch zusammengepresst, schob aber dennoch den zu langen Ärmel des Anoraks hoch und legte seine Hand in die seiner Großmutter.

     Lily lächelte Ronni verlegen an. „Das Ganze tut mir sehr leid.“

     Ronni lächelte zurück. „Ist ja nichts passiert.“

     Sobald Lily und Andrew oben außer Sichtweite waren, drehte Ryan sich zu der Ärztin um, die ihn ansah, als wüsste sie nicht so recht, was als Nächstes zu tun sei. Doch da ging es ihr ähnlich wie ihm.

     Er räusperte sich. „Ich weiß, es ist spät. Aber könnten Sie vielleicht doch noch ein paar Minuten für mich erübrigen, bevor Sie wieder nach drüben gehen?“

     „Selbstverständlich.“

     „Möchten Sie … Ihren Mantel ablegen?“

     Ronni hob abwehrend die Hand. „Nein, nein. Ich brauche ihn ja sowieso gleich wieder.“

     „Na schön.“ Die Situation war schon reichlich seltsam, fand Ryan, wie sie beide hier im Schlafanzug voreinander standen. „Kommen Sie. Wir gehen in mein Arbeitszimmer. Da können wir uns hinsetzen.“

     Er war fast sicher, dass sie Nein sagen würde.

     Den Kopf zur Seite gelegt, betrachtete Ronni ihn. Dann sagte sie ruhig: „Das wäre gut.“

     Ryan deutete auf eine Tür ganz in der Nähe der Treppe. „Gleich hier durch.“ Er ging voran, öffnete die Tür, schaltete das Licht an, ließ Ronni jedoch zuerst eintreten. „Setzen Sie sich.“

     Als sie an ihm vorbeiging, roch er nicht nur die kühle Feuchtigkeit des Regens, sondern noch etwas anderes, einen leichten Parfumduft, der so einladend wie zart und frisch wirkte.

     Ronni nahm in einem der beiden Leder-Schwingsessel gegenüber dem Schreibtisch Platz. Ryan dagegen ließ sich in den großen, dick gepolsterten Drehsessel fallen, der dahinter stand.

     „Nun …“, begann er und wusste dann nicht recht, wie er fortfahren sollte.

     Interessiert schaute Ronni sich um, betrachtete die ledergebundenen Bücher in den Regalen, die Familienfotos auf der Anrichte an der Wand und blickte schließlich auf den breiten Schreibtisch, der bis auf einen Löschpapier-Roller und einen marmornen Stifthalter leer war.

     „Ich benutze dieses Zimmer nicht oft“, sagte Ryan. „Ich habe mein Büro im Memorial.“

     „Es ist ein schöner Raum zum Arbeiten. Geschmackvoll, maskulin … und gemütlich. Oder zumindest wäre er gemütlich, mit ein bisschen mehr Unordnung.“

     „Es ist schwierig, Unordnung in einen Raum zu bringen, in dem man sich nie aufhält.“

     „Ja, wahrscheinlich.“ Ronni sah ihn an und wartete darauf, dass er die Gesprächsführung übernahm.

     Im Allgemeinen fiel Ryan dies nicht schwer, aber im Augenblick wusste er nicht so genau, wie er anfangen sollte.

     Er räusperte sich. „Ich schätze, ich hoffe einfach, dass Sie irgendetwas wissen, was ich nicht weiß, warum mein Sohn das getan hat.“

     Ronni legte die Taschenlampe auf den Schreibtisch. „Eigentlich gibt es dazu nicht viel zu sagen. Er ist zu mir gekommen, um mich zu überprüfen. Nur der Zeitpunkt war etwas ungeschickt gewählt.“

     „Moment mal. So wie ich die Sache sehe, ist er in das Gästehaus eingebrochen.“

     Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Jedenfalls nicht wirklich. Für ihn gehört das Häuschen mit zu seinem Zuhause. Er wusste sogar, dass der Schlüssel unter einem Blumentopf lag.“

     „Also schön. Er hatte einen Schlüssel. Aber die Frage ist doch, weshalb er sich überhaupt Zutritt verschafft hat.“

     „Er hat mir gesagt, er wollte sich vergewissern, dass ich weder für ihn noch für seine Familie eine Bedrohung darstelle.“

     „Aus welchem Grund würde er auf eine solche Idee kommen?“

     Ronni lehnte sich zurück und strich den Mantel über ihren Knien gerade. „Mr. Malone, Ihr Sohn ist ein sehr reifer, sehr verantwortungsbewusster kleiner Junge. Ich glaube tatsächlich, dass er genau das getan hat, was er gesagt hat, nämlich sich davon überzeugt, dass alles okay ist. Jetzt hat er begriffen, dass, solange ich da bin, das Gästehaus nicht mehr Teil seines Zuhauses ist. Und er versteht auch, dass es nicht in Ordnung ist, wenn er sich mitten in der Nacht in mein Schlafzimmer schleicht. Und er hat versprochen, es nicht wieder zu tun.“

     „Das klingt, als ob Sie ihm glauben würden.“

     „Ja, das tue ich. Und da wir gerade dabei sind … Es würde ihm viel bedeuten, wenn Sie ihn Drew nennen würden.“

     „Das hat er gesagt?“

     „Nicht wörtlich. Er hat mich gebeten, ihn so zu nennen, und er hat gesagt, dass er Ihnen und seiner Großmutter immer wieder sagt, dass er jetzt Drew heißt.“

     „Aber wir hören nicht zu, richtig?“

     Sie zuckte mit den Schultern. „Kinder in Drews Alter haben oft das Bedürfnis, ihren Namen zu ändern. Vielleicht weil sie mehr über ihr eigenes Leben bestimmen wollen. Oder vielleicht liegt es auch nur an dem natürlichen Prozess der Selbstdefinition.“ Ein Grübchen erschien in ihrer rechten Wange, als sie lächelte. „Um die Wahrheit zu sagen, habe ich meinen Namen auch etwa im gleichen Alter wie Drew geändert. Ich erinnere mich, dass ich allen Leuten gesagt habe: ‚Nicht Veronica. Ronni. Ronni mit i hinten.‘ Und so ist es auch geblieben.“

     Ryan hob die Schultern. „Was ist verkehrt an Veronica?“

     „Nichts. Ich wollte bloß Ronni heißen.“

     „Aber wieso?“

     Sie seufzte ein wenig ungehalten. „Ich dachte, das hätte ich Ihnen gerade gesagt. Ich musste mich neu definieren, auf meine eigene Weise.“

     Er schwieg einen Moment. „Nun, Sie scheinen ja eine Menge aus meinem Sohn herausbekommen zu haben.“

     „Soll das ein Vorwurf sein?“ Sie lachte.

     „Nein.“ Ryan sah sie ruhig an. „Kein Vorwurf, lediglich eine Feststellung. Und ein Kompliment.“

     Sie überlegte kurz und erwiderte dann: „Ein Kompliment. Na gut. Dann vielen Dank.“

     „Keine Ursache.“ Am liebsten hätte er gelächelt, tat es jedoch nicht. „Sie können gut mit Kindern umgehen. Aber das gehört vermutlich mit zum Beruf.“

     „Sie meinen, als Kinderärztin?“

     „Ja.“

     „Wissen Sie was? Sie haben recht. Ich bin eine Expertin, was Kinder anbelangt.“ Wieder erschien das Grübchen in ihrer Wange. „Also hören Sie auf die Meinung der Expertin. Ich glaube in der Tat, dass Drew sich einfach nur verantwortlich fühlt. Er möchte auf die Menschen aufpassen, die er liebt. Und ich finde, daran ist überhaupt nichts Verwerfliches.“

     „Er ist gerade mal neun Jahre alt“, brummte Ryan schroff. „Es ist nicht seine Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen.“

     Ryan selbst hatte sich seit seinem vierten Lebensjahr verantwortlich gefühlt, und er wollte nicht, dass seinen Kindern eine solch erdrückende emotionale Belastung auferlegt wurde.

     „Drew mag zwar erst neun sein“, antwortete Ronni sanft. „Aber sein Alter ändert nichts an seinem Gefühl. Und ich denke, dass das, was heute geschehen ist, nichts ist, worüber man sich allzu viele Gedanken machen müsste. Und mein Rat wäre …“ Sie hielt inne. „Möchten Sie überhaupt einen Rat von mir?“

     „Deshalb habe ich Sie ja hier hereingebeten.“

     Sie beugte sich vor. „Also gut. Mein fachmännischer Rat wäre, die Angelegenheit mit ihm zu besprechen, und es dann dabei bewenden zu lassen.“

     Ryan vermochte sein Lächeln nicht länger zurückzuhalten. „In Ordnung. Das werde ich tun.“

     Sie erwiderte sein Lächeln, und er ließ den Blick auf ihrem breiten Mund ruhen, diesem Grübchen. Sie besaß den Teint eines echten Rotschopfes – hell, cremefarben rosig, und ein paar Sommersprossen waren über ihrer Stirn und der Nase verteilt. Sie sah wirklich ungeheuer jung aus, vor allem jetzt, ohne jedes Make-up und das Gesicht noch ein wenig feucht vom Regen.

     Ich sollte sie nicht so anstarren, ermahnte er sich. Aber er hätte noch lange so dasitzen und sie einfach nur ansehen und ihr bezauberndes Lächeln betrachten können …

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