Manchmal habe ich das Gefühl, ich stehe auf einer Bühne, auf der ich nie gecastet wurde. Alle anderen spielen ihre Rollen perfekt – lachen, weinen, lieben, streiten – und ich stehe am Rande, mit dem Textbuch in der Hand, zu spät zur Probe und frage mich, ob ich überhaupt zur richtigen Show gehöre. Ich lache an den richtigen Stellen, sage die richtigen Sätze und nicke, wenn man nicken soll. Aber tief in mir drin läuft ein ganz anderer Film. Einer ohne Ton, in Schwarzweiß, und ich sitze irgendwo in der letzten Reihe und versuche, die Handlung zu verstehen.
Ich habe mich immer anders gefühlt, nicht im Sinne von “Ich bin so besonders”, sondern eher so, als würde ich nirgendwo richtig reinpassen. Es ist, als wäre ich die einzige Person in einem Raum voller Menschen, die verstanden haben, wie das Leben funktioniert. Und ich? Ich versuche einfach nur nicht aufzufallen.
Ich bin gut darin geworden, unsichtbar zu sein. Ich vermeide unangenehme Fragen, führe Smalltalk, lächle, wenn es erwartet wird, und schaue weg, wenn es einfacher ist. Aber irgendwann – und das ist das Gemeine – reicht das nicht mehr. Irgendwann schreit etwas in dir. Nicht laut, sondern eher so ein Zittern in der Brust, das du erst nachts spürst, wenn alle anderen schlafen und du zum ersten Mal am Tag ehrlich atmest.
Ich kann nicht genau sagen, wann es angefangen hat. Vielleicht, als mir klar wurde, dass meine Gefühle von denen meiner Freundinnen abweichen. Oder vielleicht, als ich mich dabei ertappte, wie ich jemandem zu lange hinterhersehe – nicht aus Neid, sondern weil mein Herz auf eine Weise reagierte, die ich nicht in Worte fassen konnte oder wollte. Ich habe es immer wieder weggeschoben, weil es einfacher war. Ich wollte nicht der Mensch sein, über den getuschelt wird, der von Lehrerinnen schräg angesehen wird oder der in WhatsApp-Gruppen plötzlich nicht mehr erwähnt wird.
Jahrelang habe ich gehofft, es wäre nur eine Phase, ein Gefühl, das irgendwann verblassen und verschwinden würde. Aber Gefühle sind hartnäckig. Sie klammern sich fest, auch wenn man sie ignoriert, vor allem, wenn man sie ignoriert.
Und jetzt bin ich hier. Mit sechzehn Jahren, einem Haufen Fragen und einem Namen, den ich manchmal selbst nicht aussprechen kann, ohne dass meine Stimme zittert. Ich bin hier, mit einem halben Coming-Out, das ich in meinem Kopf hundertmal durchgespielt habe, aber nie laut gesagt habe. Mit zu viel Angst, zu wenig Mut und dem leisen Wunsch, endlich einfach ich sein zu dürfen – ohne Erklärung, ohne Ausrede, ohne Etikett.
Dies ist keine Heldengeschichte. Ich rette keine Welt, vielleicht nicht einmal mich selbst. Aber es ist meine Geschichte, und irgendwann muss man anfangen, sie zu erzählen. Ehrlich gesagt.
-1- Keine Ahnung, wer ich bin
Manchmal frage ich mich, wie andere Menschen das Leben meistern. Sie stehen morgens auf, ziehen sich selbstbewusst an und scheinen genau zu wissen, wer sie sind und was sie fühlen. Ich dagegen starre jeden Tag zehn Minuten in meinen Kleiderschrank, nicht weil ich nicht wüsste, was ich anziehen soll, sondern weil ich mich frage, wen ich heute vorgeben will zu sein.
Der Hoodie ist eine sichere Wahl. Er ist weit genug, um alles zu verbergen, was ich nicht zeigen möchte, neutral genug, um keine Aussage zu treffen, und einfach genug, um nicht aufzufallen. Ich ziehe ihn über mein T-Shirt, das irgendeine Indie-Band zeigt, die ich nur halb mag, aber die cool genug klingt, um in der Schule durchzugehen.
Meine Mutter ruft von unten, dass ich mich beeilen soll. Ich antworte nicht. Sie fragt auch nicht mehr, ob alles okay ist. Wir haben ein stillschweigendes Abkommen: Ich tue so, als wäre ich normal, und sie tut so, als würde sie es glauben.
Im Badezimmer sehe ich mein Spiegelbild an, als wäre es jemand anderes. Ich versuche zu erkennen, was die anderen in mir sehen. Bin ich männlich genug? Feminin? Zu irgendwas? Zu wenig von allem? Ich weiß nicht einmal, was ich sein will. Ich weiß nur, dass ich mich in meinem Körper manchmal wie ein Gast in einem fremden Haus fühle. Und ich habe keine Ahnung, ob das normal ist oder ob „normal“ überhaupt noch ein Maßstab ist, den ich verwenden möchte.
„Als ich die Schule betrete, wird mir die vertraute Routine bewusst: Gesichter, Stimmen, Gerüche und Lärm. Alle unterhalten sich angeregt, als hätten sie nie Zweifel an ihrer Identität gehabt. Es ist, als hätten sie alle in der Früh in ihr Inneres geschaut und dort eine klare Antwort gefunden.
Ich habe es versucht. Ich habe mehrmals in mein Inneres geschaut. Aber alles, was ich gesehen habe, war ein riesiger leerer Raum mit einer Tür, auf der „Zutritt verweigert“ stand.
Im Klassenzimmer nehme ich meinen üblichen Platz hinten links ein. Nicht ganz am Rand, aber auch nicht mittendrin – ein Ort, an dem ich existiere, aber niemand mich wirklich wahrnimmt.
Luca setzt sich einen Platz weiter. Wie jeden Tag. Sein Duft ist eine Mischung aus Duschgel und einem Hauch von Zimt. Ich weiß nicht, warum ich mir das merke, aber ich tue es.
„Alles klar bei dir?“, fragt er.
Ich nicke. Natürlich. Immer.
Was soll ich sagen? Hi, ich denke viel zu oft darüber nach, ob ich auf Jungs stehe oder auf niemanden oder auf alle – aber ich habe keine Ahnung und das macht mich fertig?
Stattdessen sage ich: „Ja, klar. Müde halt.“
Er lächelt. Dieses halb schiefe Lächeln, das ihn sympathisch macht, ohne dass er sich anstrengen muss.
Ich würde gern sagen, dass ich ihn nur nett finde.
Aber ich lüge schon lang genug.
Ich schlage mein Heft auf, als könnte ich darin irgendwas über mich selbst lernen.
Aber da steht nur: Bio, Seite 86.
Und ich denke: Ich kann dir genau erklären, wie Pflanzen atmen.
Aber wenn du mich fragst, wer ich bin – keine Ahnung.“
„Leute wie du“ – ein Satz, der sich gleichzeitig nach Ausgrenzung und Schublade anfühlt. Ich weiß nicht genau, was Leute damit meinen, wenn sie das sagen. Vielleicht meinen sie es nicht mal böse. Vielleicht denken sie, sie wären damit tolerant oder sogar offen. Aber sobald jemand „Leute wie du“ sagt, weiß ich, dass ich nicht dazugehöre.
Eines Samstagabends lag ich auf meinem Bett und habe gegoogelt, wie viele Jugendliche queer sind. Ich habe mich durch verschiedene Foren geklickt, die alle gleich klangen: „Bin ich normal? Was ist, wenn ich es nur einbilde? Wie merkt man, ob man schwul, bi, pan, ace, trans oder einfach nur verwirrt ist?“
Ich habe keinen klaren Satz gefunden, der mir eine Antwort gibt. Keine Checkliste, kein Test, der mit „Herzlichen Glückwunsch, das bist du!“ endet. Nur andere Leute wie mich. Leute, die nicht wussten, wie sie es sagen sollen. Leute, die zu viel gefühlt haben – oder zu wenig. Leute, die nicht in das Schema gepasst haben, das andere für sie vorgesehen hatten.
Und irgendwo zwischen all den fremden Stimmen habe ich mich zum ersten Mal nicht komplett allein gefühlt.
Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es wäre, das laut zu sagen: „Ich bin queer.“ Zwei Wörter. Nicht kompliziert. Aber sie liegen mir quer im Hals, als hätte jemand Stacheldraht darum gewickelt.
Vielleicht, weil ich mir nicht sicher bin, ob das Wort ausreicht. Ob es zu viel oder zu wenig aussagt. Vielleicht, weil ich weiß, was es auslösen kann: Blicke, Fragen, Schweigen. Oder schlimmer noch: ein gezwungenes Lächeln, das plötzlich aufblitzt. Sätze wie: „Ich hab nichts gegen sowas“ oder „Du bist ja trotzdem noch du.“ (Trotzdem. Als ob ich jetzt weniger wäre.)
Ich frage mich manchmal, ob irgendwer wirklich weiß, wer er ist. Oder ob alle nur so tun. Ob auch Luca manchmal abends da liegt und denkt: Was stimmt mit mir nicht? Oder ob er einer von denen ist, die einfach lieben können, ohne Angst, ohne Erklärungen, ohne das Gefühl, sich selbst verteidigen zu müssen.
In der Schule gibt es keine „Leute wie mich“. Zumindest nicht öffentlich. Vielleicht ein, zwei, über die man sich hinter vorgehaltener Hand das Maul zerreißt. Einer, der sich in der neunten geoutet hat und seitdem in jeder Pause allein sitzt. Ein Mädchen aus der Parallelklasse, die sich inzwischen gar nicht mehr blicken lässt. Sie sind wie Warnschilder. So könnte es dir auch gehen.
Ich will nicht in der Pause allein sitzen. Ich will keine mitleidigen Blicke. Ich will einfach nur irgendwo dazugehören. So wie ich bin. Aber ich weiß nicht mal, wie ich bin. Nur, wie ich wirke. Wie ich wirken soll.
Mein Handy summt. Eine Nachricht von Luca. „Hausaufgaben in Mathe gecheckt?“
So belanglos. So normal. Ich schreibe: „Klar, war easy.“ Aber ich habe gelogen. Ich habe es nicht mal aufgeschlagen. Was soll ich denn sonst schreiben? „Nein, sorry, ich war zu beschäftigt damit, meine sexuelle Orientierung zu hinterfragen?“
Ich lehne mich zurück und starre an die Decke. Ich frage mich, wie viele Menschen gerade genau das Gleiche fühlen wie ich. Wie viele sitzen da draußen, mit Kopfhörern im Ohr und zu vielen Gedanken im Kopf? Und wie viele fragen sich: Wo sind die Leute wie ich?
Vielleicht sind sie näher, als ich denke. Vielleicht verstecken sie sich genauso gut. Vielleicht schreiben sie gerade ihre eigene Geschichte – leise, heimlich, zwischen den Zeilen.
Und vielleicht, wenn ich irgendwann laut genug werde, hören sie mich.
Es beginnt nie mit etwas Großem. Kein Feuerwerk, keine dramatische Musik, kein plötzlicher Lichtstrahl vom Himmel, der auf eine Erkenntnis zeigt. Es sind die kleinen Momente, die man fast übersieht, weil sie sich im Alltag verstecken wie lose Seiten zwischen den Kapiteln. Ein Blick, ein kurzes Zögern, ein einziger Herzschlag, der in der Stille zu laut ist.
Heute war so ein Tag.
Es war in der Pause. Nichts Besonderes. Der Schulhof war voll wie immer, alle in ihren Gruppen, ihre Stimmen ein durcheinanderredendes Radio. Ich saß auf der Mauer am Rand, da, wo ich gern sitze, wenn ich meine Ruhe will, aber nicht allein wirken will. Und dann war da Luca.
Er stand ein paar Meter entfernt, in einem Gespräch mit zwei Jungs aus unserer Klasse. Ich beobachtete ihn, ohne es bewusst zu wollen. Seine Hände, wie er beim Reden gestikulierte. Sein Lachen, das irgendwie unangestrengt klingt. Seine Haare, die ihm ins Gesicht fielen, bis er sie mit einer beiläufigen Bewegung zurückstrich. Und ich erwischte mich dabei, wie ich ihn länger ansah, als ich sollte.
Er merkte es. Natürlich merkte er es.
Sein Blick traf meinen. Nicht flüchtig, nicht aus Versehen. Direkt. Und ich hätte wegsehen sollen. Ich weiß das. Jeder normale Mensch hätte weggesehen. Aber ich war wie eingefroren. Mein Herz klopfte zu laut, mein Magen verkrampfte sich, und mein Blick sagte: Ich hab dich gesehen. Wirklich gesehen.
Und dann lächelte er, ganz leicht, als hätte er etwas bemerkt. Oder vielleicht war es auch nur meine Fantasie, ein höfliches Lächeln, ein Reflex.
Ich zwang mich, den Blick zu lösen und tat so, als würde ich mein Handy checken. Mein Daumen scrollte sinnlos durch alte Chats, während in meinem Kopf eine Lawine losging. Hatte er das gemerkt? Hatte ich ihn zu lange angeschaut? Was, wenn er etwas sagte? Was, wenn er nichts sagte?
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde, nicht vor Scham, sondern vor Angst. Vor der unklaren Möglichkeit, dass jemand mir etwas ansieht, was ich noch nicht mal selbst aussprechen kann.
Wusste er es? Ahnt er es? Oder… ist da auch etwas?
Die Gedanken hörten nicht auf, auch nicht im Unterricht. Ich saß da, Biobuch aufgeschlagen, aber meine Gedanken waren woanders. Immer wieder spielte ich die Szene ab: sein Lächeln, sein Blick, mein Fehler.
Oder war es keiner?
Ich frage mich, wie andere Leute das machen. Ob sie auch innerlich durchdrehen, wenn sie jemanden zu lange ansehen. Oder ob es nur mir so geht, weil ich ständig alles doppelt und dreifach analysiere. Weil ich so viel Angst habe, dass jemand mich entlarvt, bevor ich mich selbst verstanden habe.
Nach der Schule lief ich langsam nach Hause, Kopfhörer in den Ohren, aber keine Musik. Nur dieses konstante Grundrauschen aus Gedanken, wie ein innerer Sturm, den niemand hört.
Ich fragte mich: Wenn ein Blick so viel auslösen kann, was passiert dann, wenn ich irgendwann nicht mehr wegsehe?
Und tief in mir spürte ich die Antwort, auch wenn ich sie nicht aussprach: Dann beginnt etwas. Vielleicht. Etwas Echtes. Etwas, das ich noch nicht greifen kann. Aber das vielleicht schon lange in mir wartet.
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