NovelToon NovelToon

Wolfskind- Zwischen Mensch Und Tier

Prolog

In diesem Teil von Maine waren die Nächte immer still. Die Art von Stille, die einem das Gefühl gibt, dass die Welt für einen Moment angehalten hat, dass selbst die Bäume und der Wind den Atem anhalten, weil sie wissen, dass etwas passieren wird. Das Dorf Warden’s Hollow lag eingebettet in die Wälder, so klein und unscheinbar, dass selbst die Zeit manchmal vergaß, durch seine Straßen zu ziehen. Doch in der Nacht, als Luan aufwachte, war es anders. Es war eine jener Nächte, in denen die Luft elektrisch wird, in denen Hunde ohne Grund bellen und Eltern die Fensterläden fest verriegeln, als könnten sie das draußen halten, was im Dunkeln lauert. Er hatte wieder diesen Traum gehabt. Das Gefühl, dass jemand seinen Namen rief, ein flüsterndes »Luan«, das sich wie kaltes Wasser über seine Haut zog. Sein Herz schlug noch immer wild, als er sich aufsetzte und die Beine über die Bettkante schwang. Der Mond stand hoch am Himmel, hell und kalt wie das Auge eines Raubtiers, das keine Beute entkommen lässt. Er wusste nicht, wie lange er schon wach war, doch irgendetwas hatte ihn aus dem Bett gezogen. Es war wie ein Zwang, eine Stimme, die ihn rief, obwohl niemand im Haus war. Nicht wirklich. Luan lebte allein mit seinem Vater in einem kleinen Holzhaus am Waldrand. Sein Vater war ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der wenig sprach, dafür aber umso mehr trank. Und in dieser Nacht war er nicht zu Hause – wahrscheinlich in einer Bar oder bei einem seiner »Freunde«, wie er es nannte. Luan hatte sich daran gewöhnt, allein zu sein. Aber heute Nacht fühlte sich allein anders an.

Es fühlte sich an wie ein Loch in der Welt, als ob etwas fehlte. Als er durch die Küche ging, spürte er es zum ersten Mal. Ein prickelndes Gefühl, das sich in seinem Nacken ausbreitete, ein Zucken in seinen Händen. Die Luft roch anders. Schärfer. Metallisch. Er öffnete die Hintertür, ohne wirklich zu wissen, warum. Der Wald lag still vor ihm, doch etwas bewegte sich in den Schatten. Das Knacken von Zweigen. Das Heulen eines Wolfes, tief und rau, das in der Ferne begann und sich wie eine Welle durch den Wald bewegte. Und plötzlich spürte er es: ein Ziehen in seiner Brust, ein Beben, das ihn zittern ließ, als ob etwas in ihm erwachte.

Er taumelte zurück ins Haus, seine Hände auf die Brust gepresst, sein Atem kurz und abgehackt. Der Schmerz kam plötzlich, ein Brennen, das ihn auf die Knie zwang. Seine Hände krallten sich in den Holzboden, und als er aufsah, bemerkte er es: Seine Nägel waren länger geworden. Sie glänzten im Mondlicht, scharf wie Klauen. Dann kam das Knurren, tief und fremd, als ob ein Tier in ihm lebendig geworden wäre. Als der Schmerz nachließ, blieb Luan schwer atmend auf dem Boden liegen. Seine Hände zitterten, und als er sie betrachtete, waren sie wieder normal. Doch das Knurren in seiner Brust war nicht verschwunden. Er wusste nicht, was geschehen war, doch eines war klar: Irgendetwas hatte sich verändert. Und tief in seinem Inneren spürte er, dass das Heulen des Wolfes nicht nur aus dem Wald kam – es kam auch aus ihm.

Das Erwachen

Das erste, was Luan spürte, als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war der Schmerz in seinen Händen. Er zog sie unter der Decke hervor und drehte sie hin und her. Die Haut war gerötet, die Nägel kurz und stumpf, aber die Erinnerungen an die Nacht ließen ihn nicht los. Es war ein Traum gewesen, oder? Das war es immer. Albträume, die ihm den Schlaf raubten, so lebendig, dass er selbst nach dem Aufwachen nicht sicher war, wo der Traum endete und die Wirklichkeit begann. Doch die Erde, die in seinen Fingernägeln steckte, sagte ihm etwas anderes. Die Küche roch nach kaltem Kaffee und abgestandenem Bier, wie immer, wenn sein Vater spät nach Hause kam. Die Flasche auf dem Tisch war leer, die Kippe im Aschenbecher halb geraucht. Luan ignorierte das Chaos und suchte sich ein Stück Brot, aber sein Magen rebellierte schon bei dem Gedanken ans Essen. Er fühlte sich merkwürdig – wie ein Instrument, dessen Saiten zu fest gespannt waren.

Seine Ohren zuckten bei jedem kleinen Geräusch, die knarrenden Dielen, das Summen des Kühlschranks, das Kratzen eines Zweigs am Fenster. Er schob das Brot weg, zog seine Jacke an und ging nach draußen. Der Wald hinter ihrem Haus lag still, doch irgendetwas fühlte sich falsch an. Die Luft war dick, feucht und schwer, wie vor einem Gewitter, doch der Himmel war klar. Luan schob die Hände in die Taschen und ging in Richtung der Lichtung, die er normalerweise mied. Es war ein merkwürdiger Ort, der immer zu still war, selbst am Tag. Vögel flogen über ihn hinweg, aber sie landeten nie dort. Er wusste nicht, warum er dorthin ging. Aber seine Füße trugen ihn, als hätte jemand eine unsichtbare Leine an ihm befestigt. Die Lichtung lag verlassen da, doch der Boden war aufgewühlt. Grasbüschel waren ausgerissen, der Dreck roch feucht und frisch, als hätte jemand gegraben. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und Luan dachte daran, umzukehren. Doch dann sah er es. Kratzspuren. Sie waren tief und unregelmäßig, als hätte ein Tier mit Klauen versucht, etwas aus dem Boden zu holen. Luan kniete sich hin und legte vorsichtig die Finger in die Spuren. Seine Hände passten hinein. Er riss sie zurück, als hätte der Boden ihn gebissen, und stolperte rückwärts. Sein Atem wurde flach, und die Erinnerung an die Nacht kam zurück. Das Heulen. Der Schmerz. Die Krallen.

»Was ist hier los?«, flüsterte er und schüttelte den Kopf, als könne er die Gedanken aus seinem Gehirn schleudern. Doch bevor er weiter nachdenken konnte, hörte er ein Knacken hinter sich. Luan drehte sich um, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Ein Mann stand am Rand der Lichtung. Er war groß, breitschultrig und trug einen abgewetzten Mantel, der aussah, als hätte er bessere Tage gesehen. Sein Gesicht war von einem dichten Bart bedeckt, seine Augen leuchteten in einem unheimlichen Gelb.

»Was machst du hier, Junge?«, fragte der Mann, und seine Stimme war rau, wie das Knistern eines Lagerfeuers. Luan wich einen Schritt zurück. »Nichts. Ich … ich wollte nur spazieren gehen.« Der Mann lächelte, und seine Zähne waren zu spitz, zu scharf. »Das glaube ich nicht. Du hast Fragen, nicht wahr? Über das, was du bist?« Luan schluckte schwer. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Der Mann trat näher, und Luan spürte, wie die Luft um ihn kälter wurde. »Oh, du weißt es ganz genau. Es ist in dir, nicht wahr? Der Wolf. Er hat dich letzte Nacht gerufen.« Luan wollte schreien, wollte weglaufen, doch er konnte sich nicht bewegen.

»Wer sind Sie?«, fragte er, und seine Stimme klang kleiner, als er erwartet hatte. Der Mann blieb stehen, nur ein paar Schritte von ihm entfernt. »Mein Name ist Kael. Und ich bin wie du. Ein Wolf.«

Die Worte hingen in der Luft, und Luan konnte nicht anders, als zu lachen. Es war ein nervöses, gebrochenes Geräusch, das aus ihm herausbrach, bevor er es zurückhalten konnte.

»Das ist lächerlich«, sagte er. »Ich bin kein … kein Monster.«

Kael legte den Kopf schief, und für einen Moment war da etwas Tierisches in seinen Bewegungen, etwas, das nicht menschlich war. »Ein Monster? Nein. Du bist kein Monster. Aber du bist auch kein Mensch. Nicht mehr.« Kael streckte die Hand aus, und Luan spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Er wollte weglaufen, wollte schreien, doch stattdessen stand er nur da, während der Mann ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Du fühlst es, nicht wahr? Das Ziehen. Den Hunger. Es ist nur der Anfang.«

Luan schüttelte den Kopf, Tränen brannten in seinen Augen. »Ich will das nicht. Ich will normal sein.« Kael seufzte, und in seinem Blick lag etwas, das wie Mitleid aussah. »Niemand von uns hat es sich ausgesucht, Junge. Aber du kannst es nicht ignorieren. Der Wolf ist wach. Und wenn du nicht lernst, ihn zu kontrollieren, wird er dich kontrollieren.« Die Worte drangen in Luans Kopf wie ein Echo, und für einen Moment konnte er nichts sagen. Dann, ohne Vorwarnung, drehte er sich um und rannte.

Kael rief ihm nach, doch Luan hörte nicht hin. Seine Beine trugen ihn durch den Wald, seine Lungen brannten, und das Heulen eines Wolfs folgte ihm wie ein Schatten. Er wusste nicht, wohin er lief, aber eines wusste er: Etwas hatte sich verändert. Und es gab kein Zurück.

Zorn und Instinkt

Die Schule war für Luan nie ein sicherer Ort gewesen. Es war kein Ort, an dem er sich unsichtbar machen konnte – selbst wenn er es versuchte, was meistens der Fall war. Mit seinen 15 Jahren war er groß für sein Alter, aber nicht groß genug, um Respekt zu bekommen, und schmächtig genug, um eine Zielscheibe zu sein.

»Hey, Luan, hast du letzte Nacht wieder den Mond angebellt?«, rief Mason, ein bulliger Junge aus der Klasse, während sie sich in den Flur drängten. Sein Lachen klang wie das Bellen eines kleinen Hundes, und die anderen stimmten mit ein, ihre Stimmen ein Chor aus Spott. Luan ignorierte sie wie immer, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Doch heute war etwas anders. Die Worte prallten nicht einfach an ihm ab, wie sie es sonst taten. Sie schienen sich in seine Haut zu bohren, heiß und brennend, als ob sie etwas auslösten. Sein Herz schlug schneller, und er spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Es war wie letzte Nacht im Wald, dieses Ziehen, dieses Beben. Er konnte den Schweiß von Mason riechen, die seifige Süße seines billigen Deos, das darunterliegende Salz des Spotts. Es machte ihn wütend.

»Hey, Luan!«, rief Mason erneut und trat näher, während die Menge der Schüler um sie herum lachte. »Warum antwortest du nicht? Vielleicht haben Wölfe nicht gelernt, wie man spricht.«

Ein Zittern lief durch Luans Körper, und bevor er es stoppen konnte, drehte er sich um.

»Lass mich in Ruhe«, sagte er, seine Stimme tiefer und rauer als sonst. Mason stutzte. Für einen Moment schien er überrascht, doch dann grinste er, das Grinsen eines Raubtiers, das sein Opfer in die Ecke getrieben hatte. »Oh, hast du plötzlich gelernt, zu sprechen? Oder bist du doch nur ein feiges kleines Hündchen?«

Luan konnte nicht mehr denken. Sein Kopf war leer, seine Sicht verengte sich, als ob er durch einen Tunnel schaute. Er spürte das Blut in seinen Ohren rauschen, das Herz in seiner Brust schlagen wie ein Trommelwirbel.

Und dann schlug er zu. Seine Faust traf Mason hart im Gesicht. Der Klang des Aufpralls hallte durch den Flur, und alles schien plötzlich stillzustehen. Mason taumelte zurück, Blut tropfte aus seiner Nase, doch bevor jemand reagieren konnte, stürzte sich Luan auf ihn. Er spürte die Muskeln in seinen Armen, die Stärke, die er vorher nie gehabt hatte. Seine Fingernägel kratzten über Masons Arm, tiefe, rote Linien hinterlassend. Sein Kopf war leer, bis auf das Geräusch eines tiefen Knurrens, das er erst später bemerkte – ein Knurren, das aus seiner eigenen Kehle kam. Es dauerte nur Sekunden, bevor jemand Luan von Mason wegzog. Es war Mr. Bennett, der Geschichtslehrer, der mit einer Mischung aus Wut und Schock im Gesicht zwischen die beiden Jungen sprang.

»Luan! Was in aller Welt machst du?«, schrie er. Luan blinzelte, als ob er aus einem Traum aufwachte. Mason lag auf dem Boden, sein Gesicht blutüberströmt, während die anderen Schüler mit großen Augen zurückwichen.

»Ich …«, begann Luan, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Körper zitterte, und seine Hände waren rot von Masons Blut.

»Komm mit ins Büro«, sagte Mr. Bennett mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Luan saß auf dem harten Stuhl vor dem Schreibtisch der Direktorin und starrte auf seine Hände. Sie zitterten immer noch, und er konnte die Kratzer auf seinen Knöcheln sehen.

»Was ist los mit mir?«, flüsterte er. Die Tür öffnete sich, und die Direktorin, Mrs. Hartwell, trat ein, gefolgt von Mr. Bennett. Beide sahen aus, als hätten sie schon genug von ihrem Tag, obwohl es erst zehn Uhr morgens war.

»Luan«, begann Mrs. Hartwell, »ich weiß nicht, was heute Morgen passiert ist, aber das geht zu weit. Mason musste ins Krankenhaus. Wir sprechen hier von einer Suspendierung – vielleicht mehr.«

Luan hob den Kopf, wollte widersprechen, aber was hätte er sagen sollen? Dass er sich nicht erinnern konnte, was passiert war? Dass er das Gefühl hatte, jemand anderes hätte seinen Körper übernommen? Nach dem Gespräch mit der Direktorin ging Luan zurück nach Hause. Er war nicht in der Lage, die Fragen zu beantworten, die seine Klassenkameraden oder die Lehrer auf ihn warfen. Sein Vater war nicht da, wie immer. Das Haus war still, und Luan fühlte sich, als ob die Wände ihn erdrückten. Er ging in den Wald, wie in der Nacht zuvor. Die Bäume flüsterten im Wind, das Heulen eines entfernten Wolfs hallte durch die Luft, und Luan fühlte, wie das Ziehen in seiner Brust zurückkehrte. Er ballte die Hände zu Fäusten.

»Ich verliere den Verstand«, sagte er laut, als ob die Bäume ihm antworten könnten. Doch die Antwort kam aus dem Schatten.

»Nein«, sagte eine raue Stimme. »Du wirst, was du immer warst.«

Kael trat aus den Bäumen, sein Gesicht halb im Schatten.

»Was willst du von mir?«, fragte Luan, die Wut in seiner Stimme stärker als die Angst. Kael lächelte. »Ich will dir helfen. Aber du musst es auch wollen.«

»Helfen?«, fauchte Luan. »Du hast keine Ahnung, was mit mir los ist!«

Kael trat näher, bis er direkt vor Luan stand. »Oh doch, Junge. Ich weiß genau, was los ist. Du bist ein Wolf. Und das, was du heute getan hast, war nur der Anfang.« Luan wollte widersprechen, doch er wusste, dass Kael recht hatte.

Laden Sie die MangaToon APP im App Store und Google Play herunter

Roman PDF herunterladen
NovelToon
Betreten Sie eine andere WELT!
Laden Sie die MangaToon APP im App Store und Google Play herunter