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Darf Ich ...

1. KAPITEL

Ein schroffer, heller Lichtstrahl durchschnitt Ronnis Träume. Dann der Klang einer Trommel – einer riesigen Trommel, auf der jemand herumhämmerte.

     Mit einem unwilligen Stöhnen drehte Ronni sich im Halbschlaf auf die andere Seite, wobei ihr Gedankenfetzen durchs Hirn schossen: Blitz. Donner. Ein Sturm zieht auf …

     Erneut ein harter Blitz, wieder gefolgt von unheilvollem Trommeln. Ronni schlug die Augen auf – und sah die Gestalt neben ihrem Bett.

     Ein Einbrecher, dachte sie. Da ist ein Einbrecher in meinem Schlafzimmer.

     Ein sehr kleiner Einbrecher.

     Urplötzlich, so als habe irgendjemand ein Loch in den Himmel gerissen, kam der Regen. Heftig prasselte er aufs Dach, und eine unvermittelte Sturmbö peitschte ihn gegen die Terrassentür, die auf den kleinen Innenhof hinter dem Schlafzimmer hinausführte, sodass es sich anhörte wie feiner Kies, der an die Glasscheiben geworfen wurde. Noch ein gleißend blendender Blitz, der durch die zarten Gardinen aufzuckte und das Zimmer, ebenso wie den kleinen Eindringling, hell erleuchtete.

     Er ist nicht nur klein, dachte Ronni, sondern auch jung. Zu jung, um in etwas Kriminelles verwickelt zu sein. Acht oder neun vielleicht. Bekleidet mit einem gestreiften Schlafanzug und einem dunklen Morgenmantel stand er, wie sie mit einem Blick auf den Wecker feststellte, um halb zwei Uhr nachts an ihrem Bett.

     Auf einmal jedoch dämmerte es ihr. Dies war gar kein Einbrecher, sondern Ryan Malones ältester Sohn. Er war ihr am Nachmittag vorgestellt worden, als sie den Hausschlüssel abgeholt hatte. In dem grellen Lichtschein weiteten sich die blauen Augen des Jungen. Er hatte erkannt, dass Ronnis Augen offen waren.

     Ein tosender Donnerschlag krachte, rollte tief grollend davon und erstarb in dem wolkenbruchartigen Regen. Der Junge wich zurück, sobald der Raum wieder in Dunkel gehüllt war, und hastete auf die Terrassentür zu.

     „Warte!“, rief Ronni.

     Der Junge erstarrte.

     „Bitte.“ Ihr Ton wurde sanfter. „Es ist schon gut. Bleib da.“

     Zwar wandte der Junge sich nicht um, lief aber auch nicht fort. Langsam streckte Ronni die Hand aus und knipste die Nachttischlampe an. Der Junge zuckte zusammen, blieb jedoch, wo er war.

     „Andrew.“ Ronni sprach leise, um nicht bedrohlich zu wirken, und setzte sich auf. „So heißt du doch, nicht wahr?“

     Der Junge straffte die Schultern, holte tief Luft und schaute noch immer entschlossen in die entgegengesetzte Richtung. „Ich heiße Drew“, korrigierte er. „Mein Vater und meine Großmutter nennen mich immer noch Andrew. Ich sage ihnen ständig, dass ich jetzt Drew heiße, aber sie vergessen es immer wieder.“

     „Also gut, dann Drew“, sagte Ronni. „Das gefällt mir … Drew.“

     Mit einem tiefen Seufzer drehte der Junge sich schließlich zu ihr um. Sie musterten einander, während das Unwetter weiterging.

     „Was machst du hier mitten in der Nacht, Drew?“, fragte Ronni.

     Der Junge biss sich kurz auf die Oberlippe und antwortete dann ernsthaft: „Ich konnte nicht schlafen. Ich musste nachgucken, ob ich bei Ihnen sicher sein kann.“

     Ronni runzelte die Stirn. „Sicher sein?“

     „Ja.“ Trotzig hielt er den Kopf empor. „Dass es Ihnen gut geht. Und dass wegen Ihnen nichts passiert … hier in dem kleinen Haus nicht, und auch nicht drüben in unserm Haus.“ Er blickte zur Glastür.

     „Hast du irgendeinen Grund zu glauben, dass es mir vielleicht nicht gut geht?“

     „Nein. Ich weiß nicht. Ich bin der Älteste, das ist alles. Ich muss aufpassen. Aber es war wahrscheinlich eine blöde Idee.“

     Er war zu weit entfernt, im Schatten.

     „Drew, ich kann dich kaum erkennen. Willst du nicht ein bisschen näher kommen?“

     Zögernd machte er drei Schritte auf Ronni zu. „Was ist denn?“

     Sie schob die Decke herunter und setzte sich auf die Bettkante. „Ich bin Ärztin, wusstest du das?“

     Der Junge nickte vorsichtig. „Ich habe Sie gesehen. Bei Dr. Heber. Er ist mein Doktor.“

     „Ja.“ Sie stand auf und nahm ihren Bademantel vom Ende des Bettes. „Und weißt du auch, dass man ein feierliches Gelübde ablegt, wenn man Arzt ist?“

     Seine Augen verengten sich. „Ein feierliches Gelübde?“

     Rasch schlüpfte sie in den Frotteemantel, holte ihren dicken Zopf unter dem Kragen hervor und knotete den Gürtel. „Weißt du, was das bedeutet?“

     Er zog die dunklen Brauen zusammen. „Feierlich – das ist wie … sehr ernst, und Gelübde ist so was wie ein Versprechen, was man niemals brechen darf.“

     „Genau. Ein ernstes, niemals zu brechendes Versprechen, dass man vor allem ‚niemals irgendwelchen Schaden zufügt.‘ Und das bedeutet, noch wichtiger, als jemandem zu helfen, ist es, niemandem wehzutun.“ Ronni setzte sich wieder aufs Bett und klopfte auf den Platz neben sich.

     Einen Moment lang zögerte der Junge noch, dann gab er nach. Er setzte sich, allerdings nicht direkt neben sie, sondern mehr ans Bettende.

     „Verstehst du, was ich meine, Drew?“

     „Ja, aber mir brauchen Sie nicht zu helfen, weil ich gar nicht krank bin.“

     „Das sehe ich. Aber was ich damit sagen will, ist, dass ich als Ärztin einen Eid geschworen habe, anderen Menschen nicht wehzutun, egal, was passiert.“

     „Einen Eid?“

     „Das ist dasselbe wie ein Gelübde.“

     Aufmerksam sah er sie an und meinte schließlich: „Na ja, wenn Sie das versprochen haben, müssen Sie es wohl halten.“

     „Das tue ich. Es ist ein Versprechen, das ich niemals brechen werde.“

     Er fuhr fort, sie unverwandt zu betrachten. Er sah so … würdevoll aus … so jung. Am liebsten hätte Ronni den Arm um ihn gelegt, doch sie spürte seine tief sitzende Zurückhaltung und unterließ es deshalb.

     „Drew, wie bist du hier reingekommen?“

     Er rutschte ein wenig unbehaglich hin und her, ehe er gestand: „Meine Mom hat immer einen Schlüssel unter dem Blumentopf da draußen gehabt.“ Er wies auf die Terrassentür. „Ich hab ihn dorthin zurück getan.“ Er stieß einen Seufzer aus. „Aber Sie sagen jetzt bestimmt, ich hätte ihn nicht nehmen sollen, oder?“

     „Das stimmt. Das war nicht in Ordnung.“

     Der Junge schnüffelte ein wenig und straffte erneut die schmalen Schultern. „Na ja, tut mir leid. Ich werde es bestimmt nicht wieder tun.“ Er stand auf. „Und jetzt gehe ich einfach nach drüben zurück.“

     Ronni erhob sich ebenfalls. „Gut. Gehen wir.“

     Sie dachte an den Vater des Jungen, ihren gegenwärtigen Gastgeber. Ryan Malone war geschäftsführender Direktor des Honeygrove Memorial-Krankenhauses und ein imponierender Mann. Bisher war sie ihm nur ein einziges Mal begegnet, bei einem Wohltätigkeitsessen vor zwei Wochen. Marty Heber, einer der beiden anderen Kinderärzte in ihrer Gemeinschaftspraxis, hatte sie vorgestellt. Irgendwie war das Gespräch auf Ronnis neue Eigentumswohnung gekommen, die nicht mit Auslauf ihres Mietvertrages bezugsfertig sein würde.

     „Ich habe ein Gästehaus. Das können Sie gerne solange nutzen“, hatte Ryan Malone gesagt und ihr eine goldbedruckte Visitenkarte gegeben. „Rufen Sie meine Sekretärin im Memorial an. Sie wird die Details mit Ihnen besprechen.“

     Seitdem hatte Ronni ihn nicht wieder gesehen. Seine Schwiegermutter hatte ihr das Häuschen eine Woche zuvor gezeigt und ihr gestern den Schlüssel ausgehändigt.

     Und jetzt war sie im Begriff, mitten in der Nacht einen ihr fremden Mann zu wecken, um ihm seinen Sohn zurückzubringen. Die Vorstellung gefiel ihr nicht sonderlich. Aber was blieb ihr anderes übrig?

     Offenbar gingen Drews Gedanken in eine ähnliche Richtung. „Meinem Vater wird das nicht gefallen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich alleine zurück gehe.“

     „Drew. Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann.“

     „Doch, das können Sie. Es muss doch keiner wissen, dass ich hier gewesen bin. Und ich schwöre, dass ich’s nie wieder tun werde.“

     Ronni bedachte den Jungen mit einem langen, geduldigen Blick. Drew erwiderte ihn mit einem bittenden Ausdruck in den Augen, aber Ronni blieb fest.

     Schließlich murmelte Drew: „Ach, na gut.“

     Sie lächelte ihm zu. „Gib mir eine Minute, ja? Ich will sehen, ob ich irgendwo Jacken und einen Schirm für uns finden kann.“

     Mit hängenden Schultern ließ er sich wieder auf die Bettkante fallen, während Ronni aus dem kleinen Wandschrank im Flur eilig ihren Trenchcoat und Gummistiefel herausholte. Ihr Schirm jedoch war nirgends zu sehen. Rasch kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, halb befürchtend, dass Drew ihre kurze Abwesenheit zur Flucht ausgenutzt haben könnte.

     Aber er war noch da. Ronni ging zu dem Stapel Kartons in der einen Ecke, suchte den mit der Aufschrift Oberbekleidung und zog ihren alten Anorak daraus hervor.

     „Hier, zieh den an“, sagte sie.

     Der Junge streifte sich den Anorak über den Kopf, und Ronni zog Stiefel und Trenchcoat an.

     „Was ich mit deinen Schuhen machen soll, weiß ich nicht“, meinte sie mit einem kopfschüttelnden Blick auf seine Hausschuhe.

     „Schon gut. Gehen wir.“ Der Junge schaute zu ihr auf, wobei die Anorakkapuze ihm fast bis zur Nasensitze reichte. Er sah so niedlich aus, dass Ronni ihr Lächeln verbergen musste.

     „Ich sehe albern aus, stimmt’s?“, fragte er.

     Du siehst zum Anbeißen aus, dachte sie, antwortete stattdessen aber: „Nein, ganz normal.“ Sie nahm die Taschenlampe aus der Nachttisch-Schublade. „Na, dann los.“

     Draußen hatte der Sturm nachgelassen. Blitz und Donner schienen auch vorbei zu sein. Nur der kalte Regen war so stark, dass er sich in kleinen Sturzbächen von den Zweigen der Rotdornbüsche und der Fichten ergoss. Die Terrassenlampen an Rückseite des Haupthauses leuchteten ihnen den Weg.

     Den Kopf eingezogen, schlug Ronni den Mantelkragen hoch. „Komm, wir laufen.“

     Gemeinsam rannten sie über die kleine Innenhof-Terrasse, durch das Gartentor und die lange Auffahrt entlang, die zwischen dem Gästehäuschen und dem hübschen, einstöckigen Klinkerhaus im Kolonialstil verlief, in dem Ryan Malone mit seiner Familie lebte. Hinter dem Haupthaus ging es durch eine weitere Pforte und über den völlig durchgeweichten Rasen zur Hintertür, durch die sie hineingelangten.

     Ronni blieb stehen. „Und jetzt zeig mir die Vordertür.“

     „Wozu?“

     Sie knipste ihre Taschenlampe an. „Drew. Bitte. Ich versuche, mein Bestes zu tun, okay?“

     Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Ronni, eigentlich könnten Sie jetzt ruhig wieder zu dem Häuschen zurückgehen, wenn Sie wollen. Und ich kann …“

     Sie sah ihn nur an.

     Der Junge starrte einen Augenblick lang eigensinnig zurück und beklagte sich dann: „Aber wenn wir sie schon aufwecken müssen, warum können wir dann nicht …“ Schulterzuckend gab er sich geschlagen. „Aber geben Sie mir wenigstens die Taschenlampe, weil ich ja vorgehen muss.“

     Sie drückte sie ihm in die Hand. Drews Hausschuhe machten leise platschende Geräusche, während der Junge sie durch eine große Küche führte, durch ein Esszimmer mit einem großen Kirschholztisch und glänzendem Parkettfußboden, danach durch ein geräumiges, mit Orientteppichen ausgelegtes Wohnzimmer, bis sie schließlich die Vorderdiele erreichten, von der aus eine geschwungene Treppe nach oben ging. Das Licht von der Veranda schien sanft durch die facettierten Fensterscheiben zu beiden Seiten der breiten Eingangstür herein.

     „Da sind wir.“ Drew leuchtete Ronni mit der Taschenlampe ins Gesicht. „Und was machen wir jetzt?“

     „Gib mir das Ding.“ Sie nahm ihm die Taschenlampe ab und knipste sie aus.

     „Also, was machen wir jetzt?“, wiederholte der Junge ungeduldig.

     „Warten.“

     „Worauf?“

     „Bis ich wieder was sehen kann. Du hast mich geblendet.“

     „Oh. Entschuldigung.“

     „Macht nichts.“ Da ihre Augen sich mittlerweile wieder etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, trat sie auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie.

     Dann drückte sie auf den Klingelknopf. Eine melodische, in der Stille erschreckend laute Türglocke ertönte. Zur Sicherheit läutete Ronni noch einmal, schloss die Tür dann wieder und stellte sich abwartend neben Drew.

     „Das findet er bestimmt nicht gut“, flüsterte dieser ihr zu. „Er arbeitet unheimlich viel und braucht seinen Schlaf.“

     „Tja, daran hättest du früher denken sollen.“

     „Sie sollten ja auch gar nicht aufwachen“, murmelte Drew.

     „Das ist keine Entschuldigung dafür, sich mitten in der Nacht bei jemand anderem einzuschleichen. Und das weißt du genau.“

     „Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leid tut.“ Das klang wirklich zerknirscht.

     In diesem Moment ging oben an der Treppe das Licht an, und erschrocken blickten beide auf.

     Ryan Malone stand an der obersten Stufe, die Hand auf dem Lichtschalter. Sein Morgenmantel war dem seines Sohnes sehr ähnlich, sein dichtes schwarzes Haar war zerzaust, und seine Augenlider waren noch schwer vom Schlaf. Doch selbst jetzt, aus seinem Bett aufgeschreckt, machte er einen einschüchternd gebieterischen Eindruck – sogar im Pyjama.

     Langsam kam er die Treppe herunter und hielt dann inne.

     Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Aber offensichtlich hatte es etwas mit seinem Sohn zu tun, der anscheinend um diese Zeit in einem Gewitter draußen herumgewandert war.

     Die zierliche rothaarige Kinderärztin, die für den kommenden Monat sein Gästehaus benutzte, lächelte Ryan tapfer an. „Drew hat beschlossen, rüberzukommen und mich zu überprüfen.“

     Ihr Trenchcoat war vor Nässe dunkel auf den Schultern, und geblümte Schlafanzughosen, in wadenhohe Stiefel gesteckt, schauten unter dem Mantelsaum hervor. In ihrem ungebärdigen Haar glänzten Regentropfen. Zwar hatte sie es zu einem einzelnen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken herabhing, aber mehrere Strähnen waren daraus entwischt und hingen ihr nun in feuchten Korkenzieher-Locken um das fein geschnittene Gesicht.

     Sie war süß, viel zu süß. Es schien kaum möglich, dass eine Frau, die so jung aussah, bereits ein Medizinstudium, das praktische Jahr sowie die Assistenzzeit hinter sich hatte. Doch da waren noch ihre Augen – kluge, humorvolle Augen, unter denen kaum wahrnehmbare blaue Schatten lagen.

     Ryan richtete den Blick auf seinen Sohn, der eine offenbar geliehene, ebenfalls durchnässte Jacke trug. Andrew hielt den Kopf gesenkt, starrte auf seine von Wasser triefenden Hausschuhe und kaute an seiner Oberlippe.

     „Ryan, was ist los?“ Lily, seine Schwiegermutter, tauchte oben am Treppenabsatz auf. „Oh, je!“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Andrew, du bist ja tropfnass.“

     Ryan trat zur Seite, als Lily die Stufen herabgestürzt kam. „Sieh dich doch nur an. Was hast du bloß gemacht?“

     „Anscheinend hat er Dr. Powers einen Besuch abgestattet“, erklärte Ryan.

     „Wie bitte? Mitten in der Nacht, und bei diesem Wetter? So etwas sieht Andrew überhaupt nicht ähnlich.“ Lily sah von ihrem Schwiegersohn zu der Rothaarigen und wieder zurück, die Lippen ungläubig gekräuselt. Dann wandte sie sich an ihren Enkel und meinte in gekränktem Tonfall: „Andrew, ich kann nicht glauben, dass du so etwas tun würdest.“

     Der Junge sagte nichts, sondern hielt den Blick noch immer starr auf seine durchgeweichten Hausschuhe gerichtet und fuhr fort, seine Lippe zu malträtieren.

     Daher sagte Ryan: „Lily, es ist wirklich schon sehr spät. Bring ihn doch einfach jetzt ins Bett und lass es ihn am besten einmal überschlafen. Wir sprechen dann morgen darüber.“

     „Ja, natürlich.“ Sie streckte die Hand aus und winkte ungeduldig. „Komm mit, junger Mann.“

     Zwar hatte Andrew den Kiefer störrisch zusammengepresst, schob aber dennoch den zu langen Ärmel des Anoraks hoch und legte seine Hand in die seiner Großmutter.

     Lily lächelte Ronni verlegen an. „Das Ganze tut mir sehr leid.“

     Ronni lächelte zurück. „Ist ja nichts passiert.“

     Sobald Lily und Andrew oben außer Sichtweite waren, drehte Ryan sich zu der Ärztin um, die ihn ansah, als wüsste sie nicht so recht, was als Nächstes zu tun sei. Doch da ging es ihr ähnlich wie ihm.

     Er räusperte sich. „Ich weiß, es ist spät. Aber könnten Sie vielleicht doch noch ein paar Minuten für mich erübrigen, bevor Sie wieder nach drüben gehen?“

     „Selbstverständlich.“

     „Möchten Sie … Ihren Mantel ablegen?“

     Ronni hob abwehrend die Hand. „Nein, nein. Ich brauche ihn ja sowieso gleich wieder.“

     „Na schön.“ Die Situation war schon reichlich seltsam, fand Ryan, wie sie beide hier im Schlafanzug voreinander standen. „Kommen Sie. Wir gehen in mein Arbeitszimmer. Da können wir uns hinsetzen.“

     Er war fast sicher, dass sie Nein sagen würde.

     Den Kopf zur Seite gelegt, betrachtete Ronni ihn. Dann sagte sie ruhig: „Das wäre gut.“

     Ryan deutete auf eine Tür ganz in der Nähe der Treppe. „Gleich hier durch.“ Er ging voran, öffnete die Tür, schaltete das Licht an, ließ Ronni jedoch zuerst eintreten. „Setzen Sie sich.“

     Als sie an ihm vorbeiging, roch er nicht nur die kühle Feuchtigkeit des Regens, sondern noch etwas anderes, einen leichten Parfumduft, der so einladend wie zart und frisch wirkte.

     Ronni nahm in einem der beiden Leder-Schwingsessel gegenüber dem Schreibtisch Platz. Ryan dagegen ließ sich in den großen, dick gepolsterten Drehsessel fallen, der dahinter stand.

     „Nun …“, begann er und wusste dann nicht recht, wie er fortfahren sollte.

     Interessiert schaute Ronni sich um, betrachtete die ledergebundenen Bücher in den Regalen, die Familienfotos auf der Anrichte an der Wand und blickte schließlich auf den breiten Schreibtisch, der bis auf einen Löschpapier-Roller und einen marmornen Stifthalter leer war.

     „Ich benutze dieses Zimmer nicht oft“, sagte Ryan. „Ich habe mein Büro im Memorial.“

     „Es ist ein schöner Raum zum Arbeiten. Geschmackvoll, maskulin … und gemütlich. Oder zumindest wäre er gemütlich, mit ein bisschen mehr Unordnung.“

     „Es ist schwierig, Unordnung in einen Raum zu bringen, in dem man sich nie aufhält.“

     „Ja, wahrscheinlich.“ Ronni sah ihn an und wartete darauf, dass er die Gesprächsführung übernahm.

     Im Allgemeinen fiel Ryan dies nicht schwer, aber im Augenblick wusste er nicht so genau, wie er anfangen sollte.

     Er räusperte sich. „Ich schätze, ich hoffe einfach, dass Sie irgendetwas wissen, was ich nicht weiß, warum mein Sohn das getan hat.“

     Ronni legte die Taschenlampe auf den Schreibtisch. „Eigentlich gibt es dazu nicht viel zu sagen. Er ist zu mir gekommen, um mich zu überprüfen. Nur der Zeitpunkt war etwas ungeschickt gewählt.“

     „Moment mal. So wie ich die Sache sehe, ist er in das Gästehaus eingebrochen.“

     Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Jedenfalls nicht wirklich. Für ihn gehört das Häuschen mit zu seinem Zuhause. Er wusste sogar, dass der Schlüssel unter einem Blumentopf lag.“

     „Also schön. Er hatte einen Schlüssel. Aber die Frage ist doch, weshalb er sich überhaupt Zutritt verschafft hat.“

     „Er hat mir gesagt, er wollte sich vergewissern, dass ich weder für ihn noch für seine Familie eine Bedrohung darstelle.“

     „Aus welchem Grund würde er auf eine solche Idee kommen?“

     Ronni lehnte sich zurück und strich den Mantel über ihren Knien gerade. „Mr. Malone, Ihr Sohn ist ein sehr reifer, sehr verantwortungsbewusster kleiner Junge. Ich glaube tatsächlich, dass er genau das getan hat, was er gesagt hat, nämlich sich davon überzeugt, dass alles okay ist. Jetzt hat er begriffen, dass, solange ich da bin, das Gästehaus nicht mehr Teil seines Zuhauses ist. Und er versteht auch, dass es nicht in Ordnung ist, wenn er sich mitten in der Nacht in mein Schlafzimmer schleicht. Und er hat versprochen, es nicht wieder zu tun.“

     „Das klingt, als ob Sie ihm glauben würden.“

     „Ja, das tue ich. Und da wir gerade dabei sind … Es würde ihm viel bedeuten, wenn Sie ihn Drew nennen würden.“

     „Das hat er gesagt?“

     „Nicht wörtlich. Er hat mich gebeten, ihn so zu nennen, und er hat gesagt, dass er Ihnen und seiner Großmutter immer wieder sagt, dass er jetzt Drew heißt.“

     „Aber wir hören nicht zu, richtig?“

     Sie zuckte mit den Schultern. „Kinder in Drews Alter haben oft das Bedürfnis, ihren Namen zu ändern. Vielleicht weil sie mehr über ihr eigenes Leben bestimmen wollen. Oder vielleicht liegt es auch nur an dem natürlichen Prozess der Selbstdefinition.“ Ein Grübchen erschien in ihrer rechten Wange, als sie lächelte. „Um die Wahrheit zu sagen, habe ich meinen Namen auch etwa im gleichen Alter wie Drew geändert. Ich erinnere mich, dass ich allen Leuten gesagt habe: ‚Nicht Veronica. Ronni. Ronni mit i hinten.‘ Und so ist es auch geblieben.“

     Ryan hob die Schultern. „Was ist verkehrt an Veronica?“

     „Nichts. Ich wollte bloß Ronni heißen.“

     „Aber wieso?“

     Sie seufzte ein wenig ungehalten. „Ich dachte, das hätte ich Ihnen gerade gesagt. Ich musste mich neu definieren, auf meine eigene Weise.“

     Er schwieg einen Moment. „Nun, Sie scheinen ja eine Menge aus meinem Sohn herausbekommen zu haben.“

     „Soll das ein Vorwurf sein?“ Sie lachte.

     „Nein.“ Ryan sah sie ruhig an. „Kein Vorwurf, lediglich eine Feststellung. Und ein Kompliment.“

     Sie überlegte kurz und erwiderte dann: „Ein Kompliment. Na gut. Dann vielen Dank.“

     „Keine Ursache.“ Am liebsten hätte er gelächelt, tat es jedoch nicht. „Sie können gut mit Kindern umgehen. Aber das gehört vermutlich mit zum Beruf.“

     „Sie meinen, als Kinderärztin?“

     „Ja.“

     „Wissen Sie was? Sie haben recht. Ich bin eine Expertin, was Kinder anbelangt.“ Wieder erschien das Grübchen in ihrer Wange. „Also hören Sie auf die Meinung der Expertin. Ich glaube in der Tat, dass Drew sich einfach nur verantwortlich fühlt. Er möchte auf die Menschen aufpassen, die er liebt. Und ich finde, daran ist überhaupt nichts Verwerfliches.“

     „Er ist gerade mal neun Jahre alt“, brummte Ryan schroff. „Es ist nicht seine Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen.“

     Ryan selbst hatte sich seit seinem vierten Lebensjahr verantwortlich gefühlt, und er wollte nicht, dass seinen Kindern eine solch erdrückende emotionale Belastung auferlegt wurde.

     „Drew mag zwar erst neun sein“, antwortete Ronni sanft. „Aber sein Alter ändert nichts an seinem Gefühl. Und ich denke, dass das, was heute geschehen ist, nichts ist, worüber man sich allzu viele Gedanken machen müsste. Und mein Rat wäre …“ Sie hielt inne. „Möchten Sie überhaupt einen Rat von mir?“

     „Deshalb habe ich Sie ja hier hereingebeten.“

     Sie beugte sich vor. „Also gut. Mein fachmännischer Rat wäre, die Angelegenheit mit ihm zu besprechen, und es dann dabei bewenden zu lassen.“

     Ryan vermochte sein Lächeln nicht länger zurückzuhalten. „In Ordnung. Das werde ich tun.“

     Sie erwiderte sein Lächeln, und er ließ den Blick auf ihrem breiten Mund ruhen, diesem Grübchen. Sie besaß den Teint eines echten Rotschopfes – hell, cremefarben rosig, und ein paar Sommersprossen waren über ihrer Stirn und der Nase verteilt. Sie sah wirklich ungeheuer jung aus, vor allem jetzt, ohne jedes Make-up und das Gesicht noch ein wenig feucht vom Regen.

     Ich sollte sie nicht so anstarren, ermahnte er sich. Aber er hätte noch lange so dasitzen und sie einfach nur ansehen und ihr bezauberndes Lächeln betrachten können …

2. KAPITEL

Ronni griff nach ihrer Taschenlampe. Da wurde Ryan bewusst, dass er sie nicht gehen lassen wollte. Noch nicht.

     Er sagte: „Und? Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit? Im Häuschen drüben, meine ich?“

     Ronni ließ die Taschenlampe liegen. „Ja. Es ist ganz entzückend. Nochmals herzlichen Dank, dass Sie es mir angeboten haben.“

     „Kein Problem. Nicht im Geringsten.“

     „Gut. Na dann …“

     „Erzählen Sie mir mehr. Über Ronni. Und inwiefern sie sich von Veronica unterscheidet.“

     Sie lachte, es klang ein wenig nervös. „Ach was. Es ist schon sehr spät, und ich sollte besser …“

     „Es interessiert mich, ehrlich. Und außerdem regnet es noch viel zu stark. Sie können noch nicht gehen.“

     „Nicht?“

     „Nein. Sie müssen warten, bis der Regen nachlässt.“

     Zweifelnd blickte sie ihn an. „Und was ist, wenn er gar nicht nachlässt?“

     „Irgendwann wird er das schon tun. Und ich würde wirklich gerne wissen, warum Sie Ihren Namen geändert haben.“

     „Ernsthaft?“

     „Ja.“ Ryan lehnte sich vor. „Erzählen Sie.“

     Ronni zögerte, und gestand dann: „Veronica ist … ein bisschen schüchtern.“

     „Schüchtern?“, wiederholte er ermutigend.

     Vorsichtig fuhr sie fort: „Veronica fehlt es an Selbstvertrauen. Sie … macht sich zu viele Sorgen.“

     „So sind Sie gewesen? Als Kind?“

     Trotzig hob sie das Kinn. „Ja. Aber ich hab’s überwunden.“

     „Indem Sie Ihren Namen geändert haben?“

     „Nein, die Namensänderung war lediglich der äußere Ausdruck dafür.“

     „Klingt ja sehr tiefschürfend.“

     „Sie wollten es ja wissen.“

     Sie lachten beide, und dann fragte Ronni: „Und was ist mit Ihnen? Haben Sie nie den Wunsch gehabt, Ihren Namen oder irgendetwas anderes an sich zu verändern?“

     „Jetzt da Sie es erwähnen, erinnere ich mich, dass ich mir irgendwann mal wirklich gewünscht habe, ich würde Bud heißen.“ Gespielt finster sah Ryan sie an. „Lachen Sie nicht. In der fünften Klasse kann Bud ausgesprochen männlich klingen.“

     „Ryan war also nicht männlich genug?“

     „Ich habe gelernt, damit zu leben.“

     „Gut. Das gefällt mir nämlich sehr viel besser als Bud.“ Wieder streckte sie die Hand nach der Taschenlampe aus.

     Doch ehe sie sie zu fassen bekam, erklärte Ryan: „Vergessen Sie es. Es gießt noch immer in Strömen.“

     „Aber ich …“

     „Bleiben Sie. Erzählen Sie mir mehr von sich.“

     „Was denn zum Beispiel?“

     „Zum Beispiel, warum Sie Kinderärztin geworden sind.“

     Darüber musste Ronni keine Sekunde lang nachdenken. „Aus dem üblichen Grund. Ich mag Kinder.“

     „Im Gegensatz zu Erwachsenen?“

     „Nein, es ist kein Gegensatz, sondern eine Präferenz. Kinder haben einen so natürlichen … Optimismus. Ich mag ihr Staunen und ihre Einfachheit. Und außerdem sie sind unglaublich widerstandsfähig.“

     „Das heißt, es sterben Ihnen weniger weg.“

     Dies war zwar eine etwas krasse Art, es ausdrücken, aber Ronni widersprach ihm nicht. „Das stimmt. Und jetzt sind Sie dran. Was hat Sie denn dazu bewogen, sich ausgerechnet die Krankenhausverwaltung auszusuchen?“

     „Ich leite gerne.“

     Ronni schnitt ein Gesicht. „Das ist alles?“

     „Ich arbeite gerne mit Menschen zusammen. Es gefällt mir, Projekte zu organisieren, Dinge von Anfang bis Ende durchzuziehen.“

     „Sie meinen, Sie beherrschen die Dinge gerne.“

     „Das ist richtig. Ist daran irgendwas zu beanstanden?“

     „Nein, gar nicht.“ Sie grinste verschmitzt.

     Einen Augenblick lang hörte man nur den Regen draußen an den Fensterscheiben.

     Da Ryan bemerkte, dass Ronni wieder nach ihrer Taschenlampe blickte, stellte er ihr eine weitere Frage über ihre Arbeit. Ronni lehnte sich zurück, und eine Weile unterhielten sie sich über ihre jeweiligen Jobs, deren Herausforderungen und das Lohnenswerte daran.

     Schließlich erhob Ronni sich, und da sie nicht gleichzeitig nach der Taschenlampe griff, hielt Ryan sie auch nicht zurück. Sie trat an die Anrichte, um sich die Familienfotos darauf anzusehen. Eines nach dem anderen nahm sie in die Hand, betrachtete es eingehend und stellte es dann wieder hin.

     Als sie an ein Fotostudio-Porträt von Patricia kam, erkundigte sie sich: „Ihre Frau?“

     Er nickte. „Sie ist vor etwas über zwei Jahren gestorben. Akute myeloische Leukämie.“

     In Ronnis Augen sah er den verstehenden Blick der Medizinerin: Krebs der weißen Blutkörperchen, der vom Knochenmark ausging und diese rasch vermehrte, bis sie die Produktion der normalen roten Blutkörperchen unterbrachen und dann in den Blutkreislauf hinaus gelangten, wodurch sie in Organe und Gewebe eindrangen, vor allem in Milz und Leber.

     „Wir dachten zuerst, sie hätte eine schwere Form der Grippe. Keine vier Monate später war sie tot. Es war … hart für uns alle. Und für Andrew … ich meine, Drew … ganz besonders, glaube ich. Er war damals sieben, alt genug, um besser als Lisbeth und Griffin zu begreifen, was vor sich ging. Alt genug, um zu verstehen, dass er seine Mutter verlor, und zu wissen, als sie starb, dass sie wirklich nicht mehr wiederkommen würde.“

     Sorgfältig stellte Ronni das Foto an seinen Platz und kehrte zu ihrem Sessel zurück, ohne sich jedoch hinzusetzen. „Ich sollte …“

     Ryan hielt die Hand empor. „Hören Sie das? Es regnet immer noch …“

     „Vielleicht hört es ja überhaupt nicht mehr auf.“

     „Doch, irgendwann bestimmt.“

     Sie wechselten einen langen Blick, an dessen Ende Ronni sich doch wieder auf den Stuhl sinken ließ. „Und was jetzt?“, fragte sie.

     „Jetzt sollten Sie mir erzählen, welche Filme Sie mögen“, forderte Ryan sie auf.

     Ronni tat wie geheißen. Sie mochte Komödien. Ryan hingegen zog denen Action-Filme vor. Danach spann sich das Gespräch weiter fort zu Lieblingsgerichten und Traumurlaubsorten, den Colleges und Universitäten, die sie besucht hatten, und zu den Professoren, an die sie sich erinnerten.

     Ronni erzählte von ihrem Medizinstudium und davon, dass sie während ihrer Assistenz-Zeit kaum mehr als zwei Stunden Schlaf auf einmal bekommen hatte. Und endlich landeten sie bei dem Thema, welche Dinge sie am allermeisten ärgerten.

     „Preisetiketten, die nicht abgehen“, erklärte Ronni.

     Ryan fand: „Mailboxen. Ich hasse Mailboxen. Das ist nur wieder eine neue Ausrede, warum Leute nichts ans Telefon gehen.“

     „Aber ich wette, Sie haben eine Mailbox.“

     Dem vermochte er nichts entgegenzuhalten. „Schuldig im Sinne der Anklage.“

     Noch immer trommelte der Regen aufs Dach, als Ronni auf die Uhr in dem Bücherregal am Fenster schaute. „Oh, du liebe Güte! Es ist schon vier Uhr morgens.“

     Dennoch wollte Ryan, dass sie blieb. „Warten Sie doch noch etwas ab, ob es nicht weniger wird, ehe Sie über den Hof zurückwaten.“

     „Ich bin schon seit zwei Stunden hier.“

     „Und vielleicht müssen Sie auch noch zwei dableiben.“

     „Klar, dann kann ich ja gleich hier frühstücken …“

     „Warum nicht?“

     „Weil …“

     „Weil …?“

     Sie starrte ihn an. Es gab sicherlich hundert gute Gründe dafür, weshalb sie jetzt gehen sollte, oder schon längst gegangen sein sollte. Aber ihr fiel beim besten Willen keiner ein.

     Sie senkte die Augen. Waren tatsächlich bereits zwei Stunden vergangen? Das erschien ihr kaum möglich. Ryan hatte sie zum Reden gebracht, und dann … war die Zeit einfach verflogen.

     „Kommen Sie“, versuchte er sie zu überreden. „Nur noch ein bisschen.“

     Sie sah ihn an, und er lächelte. Er besaß eine Art zu lächeln, die irgendwie ungewollt wirkte, so als würde er nicht oft davon Gebrauch machen. Und das machte es zu etwas Besonderem, es löste in Ronni das Gefühl aus, etwas Besonderes zu sein.

     Sie hatte gehört, dass Ryan Malone imstande war, Geld aus einem Stein zu pressen. Er war der Vorkämpfer für den Plan gewesen, Millionen an Spenden für den Anbau eines viel benötigten neuen Flügels am Honeygrove Memorial zu sammeln. Dieser neue Flügel befand sich bereits im Bau und sollte im September, also in gerade mal acht Monaten, eröffnet werden.

     Alle bewunderten ihn und fragten sich, wie er es geschafft hatte. Doch als Ronni ihm in diesem Moment in die Augen blickte, verstand sie sein Geheimnis. Der Mann besaß eine eindrucksvolle Präsenz, eine natürliche Zurückhaltung und ein widerstrebendes Lächeln, das umwerfend war. Eine unschlagbare Kombination, ob es sich um wohlhabende Spender handelte, die davon überzeugt werden mussten, ihm ihr Geld anzuvertrauen, oder darum, eine Frau dazu zu überreden, die ganze Nacht aufzubleiben und mit ihm über Gott und die Welt zu reden.

     Sag, dass du gehen musst, und zwar jetzt, beharrte Ronnis klügere innere Stimme. Aber als sie den Mund aufmachte, war alles, was herauskam: „Nun ja, vielleicht könnte ich …“

     „Oh, Ryan! Ich hätte nie gedacht, dass Dr. Powers noch hier ist.“

     Die Schwiegermutter, die zur Rettung eilt, schoss es Ronni durch den Kopf. Die ältere Frau stand in der Tür zum Flur, den Bademantel vor der Brust zusammengefasst, und blinzelnd, als sei sie eben aus dem Tiefschlaf erwacht, was vermutlich auch der Fall war.

     „Ich bin aufgewacht und dachte, ich höre Stimmen. Deshalb bin ich heruntergekommen. Ich … ich hoffe, ich störe nicht irgendwie …“

     Ronni nahm ihre Taschenlampe an sich und ging auf die Tür zu. „Ich wollte gerade gehen.“

     „Nun, das würde ich annehmen. Es ist ja so spät“, sagte Lily.

     „Warten Sie.“ Ryan erhob sich aus seinem Drehstuhl. „Ich bringe Sie über den Hof zurück.“

     Seine Schwiegermutter protestierte: „Ryan, draußen schüttet es.“

     „Sie hat recht“, fiel Ronni sogleich ein. „Es wäre wirklich sinnlos, wenn wir beide nass würden.“

     „Ich bringe Sie rüber“, wiederholte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich hole nur schnell einen Schirm.“ Er kam um seinen Schreibtisch herum, ging zwischen den beiden Frauen unter der Tür durch und kommandierte dann über die Schulter gewandt: „Lily, und du gehst jetzt wieder ins Bett.“

 

Fünf Minuten später standen Ryan und Ronni vor der Glastür zum Schlafzimmer des Gästehauses.

     Ronni betrachtete bedauernd seine Füße. „Jetzt sind Ihre Hausschuhe auch ruiniert, genau wie die Ihres Sohnes.“

     „Die werden schon wieder trocknen.“ Das Regenwasser, das von dem Dachüberhang über ihnen herabströmte, traf hart auf Ryans Schirm, prallte davon ab, bespritzte die Schuhe und durchnässte seine Pyjamahose bis zur halben Wadenhöhe.

     Ronni schaute zu dem Schirm auf. „Lieben Sie Oregon auch so wie ich? Wenn es gerade nicht regnet, ist der nächste Regen bereits im Anzug. Aber weshalb beschwere ich mich eigentlich? Ich habe meine Assistenz-Zeit in Seattle verbracht, hatte ich Ihnen das schon erzählt? Dort war’s noch schlimmer.“

     „Und hier“, erinnerte er sie, „kriegen wir im Sommer tatsächlich sogar Sonnenschein. Und dann gibt’s da noch das Lachsfischen, und die phantastische, zerklüftete Pazifikküste nur zwei Autostunden entfernt.“

     „Und die Tulpen im Frühling, mit denen das Tal weit und breit übersät ist …“ Sie lachte ein wenig atemlos. „Ich …“ Ronni wusste nicht recht, was sie als Nächstes sagen sollte. Schließlich meinte sie scheu: „Vielen Dank für …“

     „Dafür dass ich Sie die ganze Nacht wach gehalten habe?“, ergänzte Ryan bereitwillig.

     „Ja. Aber nicht nur das. Sondern auch dafür, dass Sie mich hierher begleitet haben. Dass Sie so … galant sind.“

     „Galant“, meinte er trocken. „Genau.“

     „Nun, Mr. Malone, ich …“

     „Waren wir nicht schon beim Vornamen?“

     „Oh … ja, richtig …“

     Ihr Haar wirkte so hell und lebendig. Am liebsten hätte Ryan es berührt, es zwischen seinen Fingern gerieben und die Regennässe darin gespürt. Er wollte sich herunterbeugen und sein Gesicht darin vergraben, sich alle Sinne von ihrem zarten, verführerischen Parfum betören lassen. Und dann wollte er sie küssen. Langsam und gründlich.

     „Also dann, gute Nacht, Ryan“, sagte Ronni.

     Er musste zurücktreten, damit sie die Tür öffnen konnte. Mit einem Winken der Taschenlampe schlüpfte sie hinein.

     „Gute Nacht, Ronni“, flüsterte Ryan, als sie die Tür hinter sich schloss, und blieb solange stehen, bis sie ihm noch einmal zuwinkte und dann die Vorhänge zuzog.

     Schließlich, nach ein oder zwei Minuten, gab er sich einen Ruck und kehrte mit langen Schritten in das große Haus zurück.

     Nachdem er dort etwas Trockenes angezogen hatte, schaute er bei seinen Kindern hinein.

     Die beiden Jüngeren schliefen tief und fest. Lisbeth war eng in ihre Decke gewickelt, sodass nur ihr kleines Stupsnäschen zu sehen war. Griffin dagegen hatte die Decke weggestoßen und sich dann gegen die nächtliche Kühle zu einer Kugel zusammengerollt.

     Ryan dachte an Tanner, seinen jüngeren Bruder, der früher auch manchmal im Winter seine Decke verloren hatte. Ehe Tanner fünf Jahre alt war, wurden sie zum ersten Mal getrennt. Doch in den ersten anderthalb Jahren nach dem Tod ihrer Eltern hatten sie in engen Betten Seite an Seite in einem staatlichen Pflegeheim geschlafen. Und wenn Tanner sich freigestrampelt hatte, hatte Ryan ihn wieder zugedeckt.

     Behutsam, um ihn nicht zu wecken, steckte Ryan die Bettdecke um seinen vierjährigen Sohn wieder fest. Danach trat er leise in Andrews, ach nein, Drews Zimmer ein.

     Kaum stand er im Raum, richtete der Junge sich auf. „Dad?“

     „Du solltest schlafen“, flüsterte Ryan vorwurfsvoll.

     „Dad, es tut mir leid. Was ich getan habe.“

     Ryan setzte sich zu ihm aufs Bett. „Es ist schon okay. Hauptsache, du tust es nicht wieder.“

     „Nein, bestimmt nicht.“

     „Dann ist es ja gut.“

     „Ronni war nicht sauer. Sie ist nett.“

     Sein Vater lächelte unwillkürlich. „Du magst sie, hm?“

     „Ja.“

     „Ich auch.“ Sehr sogar.

     „Dad? Du kannst jetzt ruhig wieder ins Bett gehen. Es ist alles in Ordnung.“

     „Drew, ich …“ Ryan erhob sich. „Leg dich hin und schlaf, ja?“

     Gehorsam streckte der Junge sich aus, die Decke bis unters Kinn hochgezogen, und Ryan ging zur Tür.

     „Dad?“

     „Was denn?“

     „Du hast mit Ronni über mich gesprochen, stimmt’s? Sie hat dir gesagt, dass du Drew zu mir sagen sollst.“ Da Ryan nicht gleich antwortete, fuhr Drew fort: „Es ist okay, Dad. Wenn du mit ihr gesprochen hast.“

     „Ja, das habe ich. Und jetzt schlaf. Morgen ist Pizza-Tag.“

     „Mit Onkel Tanner?“

     „Na klar, so wie immer.“

 

Am folgenden Tag um die Mittagszeit klopfte Ryans Schwiegermutter an die Glastür des Gästehauses, in der Hand zwei folienbedeckte Teller, und Ronnis Anorak über die Schulter gehängt.

     Ronni blickte von dem Karton voller Jeans und dicker Pullover auf, den sie gerade aufs Bett gestellt hatte, und machte auf.

     „Da ich Sie heute Morgen nicht habe wegfahren sehen, dachte ich mir, dass Sie den Sonntag zum Auspacken nutzen.“

     Mit einer Handbewegung lud Ronni sie ein, einzutreten.

     „Sieht aus, als machten Sie Fortschritte“, bemerkte ihre Nachbarin.

     Ronni sah zu dem Karton hin. „Eigentlich ist es gar nicht so viel. Das meiste habe ich für diesen Monat eingelagert.“

     „Sie freuen sich sicher schon auf Ihr neues Heim, nicht wahr?“

     „Ja, doch.“ Ein wenig gezwungen lächelten sie einander an, ehe Ronni nach ihrem Anorak griff. „Ich nehme Ihnen den mal ab.“

     „Oh, natürlich.“

     Nachdem Ronni die alte Jacke über eine Stuhllehne geworfen hatte, drehte sie sich wieder zu ihrer Besucherin um. „Mrs. …?“

     „Mein Name ist Underhill. Aber bitte, nennen Sie mich doch Lily.“

     „Ich bin Ronni.“

     „Also gut, Ronni.“ Lily hob die Teller. „Ich dachte, vielleicht hätten Sie Appetit auf einen kleinen Imbiss.“

     „Das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen.“

     „Ach, das ist doch nichts weiter.“

     Erneut lächelten sie einander an, und Ronni schlug vor: „Nun, dann gehen wir doch am besten gleich in die Küche.“

     „Ja, gern.“

     Auf dem runden Küchentisch aus Kiefernholz entfernte Lily die Folie von den Tellern, auf denen jeweils ein Sandwich und eine Portion Salat angerichtet war.

     „Das sieht köstlich aus“, meinte Ronni.

     „Es ist Roastbeef mit Meerrettich. Ich hoffe, Sie sind keine Vegetarierin?“

     „Nein, ich liebe Roastbeef mit Meerrettich. – Möchten Sie vielleicht einen Kaffee dazu?“

     „Nur ein Glas kaltes Wasser, bitte.“ Lily holte Besteck aus einer der Schubladen, und dann setzten sie sich zum Essen gemeinsam an den Tisch.

     „Es schmeckt wunderbar“, sagte Ronni.

     „Ach, es ist doch nur ein Sandwich“, wehrte Lily ab. „Aber ich muss gestehen, ich koche gerne. Meine Tochter Patricia … Ryans Frau, hat auch so gerne gekocht. Und dabei hat sie immer ihre schlanke Linie behalten. Abgesehen von ihren Schwangerschaften hatte sie nie mehr als Größe 36.“ Ein Schatten trat in Lilys Augen. „Und zum Schluss war sie dann so dünn.“ Leise fuhr sie fort: „Sie hatte Krebs … Es war hart ohne sie, für die Kinder, für Ryan, für uns alle.“

     Mit einer weiten Geste umfasste Lily den Raum. „Patricia hat das alles gemacht. Sie wollte, dass das Gästehaus freundlich und gemütlich ist. Und das Haupthaus hat sie auch selbst eingerichtet, sie hat alles eigenhändig ausgewählt. Sie hatte wirklich einen Sinn dafür, ein Heim einladend zu gestalten.“ Ihre Augen wirkten verdächtig feucht.

     „Sie vermissen sie sicher sehr“, meinte Ronni mitfühlend.

     Lily atmete tief ein und strich sich die Papierserviette auf dem Schoß glatt. „Ich … habe sie allein aufgezogen, zum größten Teil. Ihr Vater starb, als sie zwei war.“

     „Klingt, als hätten Sie es gut gemacht.“

     „Ich habe mein Bestes getan. Wir standen uns so nahe. Ich habe mir so viel für sie gewünscht. Und sie … hat alle meine Träume für sie wahr gemacht. Jedenfalls solange … wie sie bei uns war. Sie war dreiundzwanzig, als sie Ryan geheiratet hat. Sie hätten sie an ihrem Hochzeitstag sehen sollen. Patricia so blond, schlank und groß. Und Ryan an ihrer Seite, dunkel, gut aussehend, und voller Stolz. Von Anfang an wusste ich, was für einen Ehemann er abgeben würde – ehrlich und verantwortungsbewusst, ein guter Ernährer. Alles, was eine Frau sich nur wünschen konnte.“ Mit einem kleinen Lächeln beugte Lily sich zu Ronni. „Gut genug sogar für meine geliebte Tochter, wenn Sie wissen, was ich meine.“

     Ronni lächelte zurück. „Ja, ich denke schon.“

     Ein paar Minuten lang schwiegen sie und widmeten sich ihrem Essen.

     Dann sagte Lily: „Ryan hat mir berichtet, dass Sie der Meinung sind, wir müssten wegen Andrew nicht allzu beunruhigt sein.“

     „Das stimmt. Ich finde, Ihr Enkel ist ein großartiger Junge. Er wird nicht noch einmal heimlich zu mir kommen. Aber zur Sicherheit habe ich auch den Schlüssel entfernt.“

     „Fein.“ Lily nippte an ihrem Wasser. „Andrew ist ein guter Junge, er ist seinem Vater sehr ähnlich.“ Sie nahm ihre Gabel, legte sie jedoch wieder fort, ohne sie zu benutzen. „Offen gestanden ist Ryan derjenige, um den ich mir Sorgen mache. Er arbeitet immer so lang. Aber Sie wissen sicher selbst, wie das ist, nicht wahr? Ich nehme an, Ihr Arbeitspensum ist auch ziemlich anstrengend.“

     Oh Lily, dachte Ronni. Ich verstehe schon. Und du hast recht. Ryan und ich, wir sind beide viel zu beschäftigt, als dass wir irgendetwas miteinander anfangen sollten.

     „Er hat kaum Zeit für die Kinder“, fuhr Lily fort. „Aber er bemüht sich. Heute verbringt er den Nachmittag mit ihnen. Es ist eine Familienveranstaltung – Ryan und die Kinder, und Ryans Bruder Tanner. Sie gehen immer an einem Sonntag im Monat zu Pizza Pete.“

     Bei Pizza Pete gab es nicht nur Pizza, sondern auch alle möglichen Freizeitvergnügungen für Kinder.

     „Hört sich gut an“, sagte Ronni und meinte dann: „Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch noch einen Kaffee möchten?“

     „Ach, eigentlich sollte ich das lieber nicht. Sie wollen sicher weiter auspacken …“ Lily wirkte ein wenig verloren, und einsam.

     In dem Bewusstsein, dass sie es vermutlich bereuen würde, drängte Ronni: „Kommen Sie, nur eine Tasse.“

     „Also gut. Es ist so nett, zur Abwechslung mal mit einer anderen Frau zu reden.“

     Lily blieb noch eine halbe Stunde, in der sie noch viel mehr über Patricia erzählte, was für ein entzückendes Kind sie gewesen sei, und was für ein hübsches junges Mädchen. Und wie sie in einem Versicherungsbüro gearbeitet hatte, um noch etwas dazu zu verdienen, als Ryan am Anfang seiner beruflichen Karriere stand.

     „Aber sobald Ryan finanziell abgesichert war, ist Patricia natürlich zu Hause geblieben. In der Hinsicht war sie altmodisch. Sie war davon überzeugt, dass ihre Kinder sie brauchten. Und dass ein schönes Heim zu gestalten und ihrer Familie nahrhafte, wohlschmeckende Mahlzeiten zuzubereiten, eine sehr wichtige und lohnenswerte Aufgabe war. Und sie hat Ryan auch so wunderbar unterstützt. Sie haben häufig Gäste gehabt, besonders in den letzten ein oder zwei Jahren vor Patricias Krankheit, nachdem er Geschäftsführer des Memorial geworden war und ein gewisses gesellschaftliches Image pflegen musste. Er brauchte den Kontakt zu den einflussreichen Kreisen hier, um das Geld für den neuen Anbau aufzutreiben. Sie haben davon gehört?“

     Ronni nickte.

     „Und wussten Sie, dass Ryans Bruder Tanner der Bauherr ist?“, plauderte Lily munter weiter. „Der Bau geht gut voran, aber vielleicht hatten Sie ja noch keine Gelegenheit, ihn zu sehen. Vermutlich sind Ihre Patienten im Kinderkrankenhaus?“

     „Ja, aber ab und zu habe ich auch im Memorial zu tun, um Patienten bei der Geburtsnachsorge zu betreuen. Der neue Flügel sieht recht imposant aus.“

     „Ja, sie beginnen gerade mit dem Innenausbau, der etwa hundert Millionen Dollar kostet. Aus dem Pembroke Fond. Da Ryan ein Pembroke-Stipendiat gewesen ist, war dies natürlich eine sehr hilfreiche Verbindung. Außerdem spielt er regelmäßig Squash mit Axel Pembroke, dem Präsidenten der Stiftung. Haben Sie ihn mal kennen gelernt? Ein komischer kleiner Mann.“ Lily zuckte mit den Schultern. „Und Patricia hat selbstverständlich ihren Anteil beigetragen, dessen können Sie versichert sein. Solch reizende Partys, für die sie alles selbst vorbereitet hat, vom perfekten Essen bis hin zu den Blumenarrangements. Sie wollte einfach keinen Partyservice beauftragen. Aber das war auch verständlich. Niemand konnte eine Party so wunderbar gestalten wie Patricia. Und dann, wenn alles fertig war, hat sie ihr herrliches blondes Haar zu einem schlichten Knoten frisiert, ein kleines schwarzes Kleid angezogen, und sah aus, als habe sie keinen einzigen Finger gerührt, um das Ganze zu organisieren. Sie war wirklich eine außergewöhnliche Gastgeberin. Ich glaube, Mr. Pembroke hatte sogar eine Schwäche für sie …“

     Als Lily schließlich mit zwei leeren Tellern und einem letzten lebhaften Winken aus der Hintertür ging, war Ronni nur allzu froh, sie gehen zu sehen.

     Ich kann es genau vor mir sehen, dachte sie, während sie Jeans und Pullover aus dem Karton auf ihrem Bett räumte. Jedes Mal wenn ich Ryan in der Auffahrt zuwinke, kommt Lily mit Mittagessen beladen hier an, mit endlosen Geschichten über die unersetzliche Patricia, der liebenden Ehefrau und Mutter und Supergastgeberin.

     Nicht dass Ronni irgendwelche Absichten hegte, diesen Ausbund an Tugend zu ersetzen. Nein, sie hatte höchst exakte Vorstellungen über ihr Leben. In denen selbstverständlich auch ein Mann vorkam. Aber nicht jetzt, frühestens in ein oder zwei Jahren. Im Augenblick musste Ronni ihre gesamte Aufmerksamkeit darauf richten, sich in ihrer Praxis zu etablieren, und auf ihre neue Wohnung, in die sie Ende des Monats einziehen würde – endlich ihr eigenes Zuhause …

     Lily hätte sich ihr Roastbeef-Sandwich sparen können. Ronni war nicht hinter Ryan Malone her. Ja, er war attraktiv, ausgesprochen attraktiv sogar. Und es war beunruhigend leicht gewesen, die ganze Nacht mit ihm zu reden. Aber es würde zu nichts führen. Das Timing war einfach nicht richtig.

3. KAPITEL

„Du siehst heute viel zu ernst aus, großer Bruder“, bemerkte Tanner.

     Sie saßen an einem der im Picknick-Stil gehaltenen Tische von Pizza Pete. Auf der anderen Seite des überfüllten Raumes tobten Lisbeth und Griffin in einer Netzgrube voller Bälle herum, während Andrew von außen auf sie aufpasste.

     „Ich denke bloß nach“, brummte Ryan. „Über Andrew … ich meine Drew. Man hat mich informiert, dass er ab jetzt Drew heißt.“

     „Informiert? Von wem?“

     „Habe ich dir schon erzählt, dass momentan eine Frau in unserem Gästehäuschen wohnt?“

     Tanner, breitschultrig und blauäugig wie sein Bruder, wenn auch ein wenig kleiner, lehnte sich über die Tischplatte nach vorn und zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin ganz Ohr. Erzähl weiter.“

     Ryan erstattete Bericht über den Vorfall der vergangenen Nacht, allerdings in einer etwas zurechtgestutzten Version. Dass Ronni und er zwei Stunden lang in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich über nichts Wesentliches unterhalten hatten, verschwieg er geflissentlich.

     „Ich schätze, deshalb bin ich wegen Drew ein bisschen beunruhigt“, schloss er. „Dass er sich womöglich zu viel auflädt und glaubt, er müsste …“

     „He, Moment mal“, fiel Tanner ihm ins Wort. „Mir scheint, sein einziges Problem ist, dass er genauso ist wie sein Vater. Er möchte sich um seine Familie kümmern, und es gibt wirklich Schlimmeres in der Welt als das.“

     „Na ja, schon, aber …“

     „Worüber ich gerne mehr erfahren möchte, ist diese nette, gut aussehende Kinderärztin mit den roten Haaren.“

     Ryan bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. „Habe ich erwähnt, dass sie ein Rotschopf ist?“

     „Allerdings.“

     Ryan rutschte auf seinem unbequemen Stuhl herum. „Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich mochte sie. Sie hat sehr … verständnisvoll reagiert.“

     So leicht ließ Tanner sich nicht täuschen. „Klar, verständnisvoll.“

     „Schau mich nicht so an.“

     „Du bist interessiert.“

     „Na schön, vielleicht. Aber wo soll das hinführen? Ich arbeite sechzig Stunden die Woche, und ich denke immer, ich müsste eher mehr Zeit mit den Kindern verbringen.“

     „Es muss doch zu gar nichts führen. Du fragst sie, ob sie mit dir ausgeht, das ist alles. Und wenn ihr Spaß miteinander habt, gehst du wieder mit ihr aus.“

     „Schon, aber …“

     „Ich hab’s. Der Herzensball.“ Der Herzensball war ein Wohltätigkeitsball, der alljährlich vom Freundeskreis des Memorial veranstaltet wurde. „Der ist in zwei Wochen. Hast du schon eine Verabredung dafür?“

     „Nein, aber …“

     „Du gehst doch hin, oder?“

     „Selbstverständlich.“ Ryan war offiziell als Redner vorgesehen, um eine kleine Ansprache über den Neuanbau zu halten.

     „Dann frag sie“, forderte Tanner ihn auf. „Heute noch. Ich will, dass du mir eine verbindliche Zusage machst, und zwar bevor unsere Riesen-Peperoni-Pizza kommt.“

     „Ich denk drüber nach.“

     „Denk nicht, handle.“

     „Tanner, ich werde es mir überlegen.“

     „Dann überleg schnell. Hier ist schon unsere Pizza. Und drei hungrige Kinder kommen auf uns zugestürmt.“

 

Den Rest des Nachmittags und bis zum Abend dachte Ryan darüber nach. Und er dachte auch an das, was sein Bruder gesagt hatte. Es muss zu gar nichts führen. Du gehst mit ihr aus, und wenn ihr Spaß habt, gehst du wieder mit ihr aus …

     An diesem Abend, nachdem die Kinder schließlich im Bett waren, und Lily sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte, ging Ryan leise zur Hintertür hinaus, lief die Garagenauffahrt hinunter und zur Vorderveranda des Gästehauses.

     „Oh“, machte Ronni, als sie öffnete. „Ryan. Hallo.“

     „Hallo.“

     Sie blickte ihn an. Er sah so … in sich ruhend aus, so unglaublich attraktiv und selbstsicher. Er trug eine Freizeithose und einen weichen, dunkelfarbigen Pullover.

     Ihre eigene Bekleidung hingegen bestand lediglich aus einem ausgebeulten Sweatshirt, schwarzen Leggings mit einem Loch im Knie sowie einem Paar dicker grauer Wollsocken. Ihre Haare waren zerwühlt und standen ihr nach allen Richtungen wild vom Kopf ab, wie dies immer der Fall war, wenn sie sie mehrere Stunden lang nicht durchgekämmt hatte. Auch Make-up hatte Ronni nicht aufgelegt, da sie den ganzen Tag ja nur damit verbracht hatte, ihre Sachen im Haus zu verstauen und wegzuräumen.

     Genau wie letzte Nacht, dachte sie. Da war ich auch ein wandelnder Mode-Notfall, als meine Haare sich unordentlich aus dem Zopf gelöst haben und ich mit meinen Stiefeln über seine Orientteppiche getropft habe. Er wird glauben, dass ich immer so aussehe wie etwas, das nicht einmal eine Katze hereinschleppen würde.

     Nichts dass es irgendetwas bedeutete.

     Es bedeutete rein gar nichts.

     Ryan war gegenwärtig ihr Gastgeber und sonst nichts. Kein Mann, von dem sie hoffte, dass er sie als Frau beachten würde, oder für den sie schön aussehen wollte.

     Ronni schluckte. „Äh, kommen Sie doch rein.“

     Sie trat zurück, und er betrat den winzigen Eingangsflur, der eigentlich zu klein für zwei Personen war. Ryan roch nach einem angenehmen Aftershave.

     Ronni zeigte zur Küche. „Nehmen Sie Platz.“

     „Danke.“ Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich an den gemütlichen französischen Küchentisch, auf dem sich ein Notebook und ein Stapel medizinischer Fachzeitschriften neben mehreren handschriftlichen Notizblättern befanden.

     „Sie arbeiten?“

     „Bloß eine kleine Auffrischung.“ Ronni lehnte an der blau gefliesten Arbeitsplatte an der Spüle, da sie zu nervös war, um sich ebenfalls zu setzen. „Am Freitag ist eine meiner Dreijährigen mit einem juckenden, schuppig aussehenden Ausschlag im Gesicht und den Kniekehlen zu mir gekommen. Kindliches Ekzem. Ich habe Antihistamine verschrieben und ein paar Allergietests gemacht, aber es schadet nie, auch andere Möglichkeiten zu untersuchen. – Kann ich Ihnen irgendwas anbieten?“

     Ryan hob die Schultern. „Ein Bier, wenn Sie haben?“

     „Bier?“ Dummerweise hatte sie nicht daran gedacht, welches zu besorgen.

     „Falsche Wahl, hm? Kein Problem. Ich brauche wirklich nichts.“

     „Sicher?“

     „Ja, ganz sicher.“ Ein kleines Lächeln erschien um seine Mundwinkel. „Sie fragen sich bestimmt, warum ich hier bin, nicht wahr?“

     „Nun ja …“

     „Ich würde gerne mit Ihnen zum Herzensball gehen.“

     Darauf war Ronni überhaupt nicht gefasst. „Den Herzensball?“

     „Ja. Er ist am zwölften Februar.“

     Das wusste sie natürlich. Der Herzensball, der jedes Jahr um den Valentinstag herum stattfand, war eine große Sache in Honeygrove, und die meisten Ärzte versuchten dabei zu sein.

     Eindringlich betrachtete Ryan sie. „Sie haben schon eine Verabredung“, meinte er enttäuscht.

     „Ich …“ Schwindle ihm was vor, sagte sie sich. Tu so, als hättest du schon was vor. Doch das brachte sie nicht über sich. „Nein. Nein, ich bin nicht verabredet.“

     „Also?“ Er wartete, sein Gesichtsausdruck ruhig, aber seine Augen waren alles andere als das.

     Das Problem war, dass Ronni nur zu gern angenommen hätte.

     „Wenn Sie nein sagen, bin ich am Boden zerstört“, meinte er halb scherzend, und doch schwang etwas Wahres darin mit.

     Es könnte doch nett werden, sagte sie sich. Und außerdem ist es eine Veranstaltung, an der ich eigentlich wirklich teilnehmen sollte. Ihre beiden Kollegen, Randall und Marty, hatten sie bereits gedrängt zu kommen.

     „Sagen Sie Ja.“

     „Na gut. Ja.“

     „Na also, geht doch. War das denn so schwer?“

     Obwohl es eine rhetorische Frage war, erwiderte sie: „Nein, gar nicht.“

     Ryan stand auf. „Nun, ich schätze, ich sollte Sie dann jetzt wohl weiterarbeiten lassen.“

     Aber anstatt ihm zuzustimmen, erkundigte Ronni sich: „Wie war es bei Pizza Pete?“

     Und da er daraufhin wissen wollte, woher sie davon wusste, berichtete sie ihm von Lilys Besuch. Doch dies war erst der Anfang.

     Es war merkwürdig. Hatten sie erst einmal angefangen zu reden, schien es, als könnten sie nicht wieder aufhören. Ryan erzählte mehr von seiner Arbeit, die er offenbar ebenso liebte wie Ronni die ihre.

     Noch nie zuvor war sie einem Mann begegnet, mit dem sie sich so leicht und ungezwungen unterhalten konnte. Und die Zeit verging wie im Flug, so wie in der vorhergehenden Nacht. Als Ronni ihm schließlich zur Haustür folgte, wo sie sich verabschiedeten, war es beinahe elf.

 

Am Donnerstag erstand Ronni ein neues Kleid für den Herzensball. Zwar hatte sie eigentlich keine Zeit für einen Einkaufsbummel, aber irgendwie gelang es ihr dennoch, einen schnellen Gang ins Einkaufszentrum einzuschieben – zwischen den Sprechstundenzeiten, dem Besuch bei drei ihrer kleinen Patienten im Kinderkrankenhaus und einem kurzen Halt an ihrer neuen Wohnung. Dort musste sie sich mit dem Elektriker auseinandersetzen und bemühte sich, keinen Wutanfall zu bekommen, als sie feststellte, dass die falsche Badewanne geliefert worden war: eine rosafarbene anstatt der kobaltblauen, die sie bestellt hatte.

     Da sie am Abend noch zu einem Notfall gerufen wurde, war es bereits nach Mitternacht, als Ronni endlich in die lange Auffahrt zwischen dem Haupthaus und dem Gästehaus einbog. Direkt hinter ihr war ein großer schwarzer Lincoln. Ryan.

     Ronni fuhr weiter zum Carport vor dem Häuschen, griff nach ihrer Handtasche und stieg fröstelnd in der kalten Nachtluft aus.

     Ryan hatte seinen Wagen in die Garage gefahren. Sobald Ronni die Auffahrt erreicht hatte, blieb sie stehen und wartete. In der Hoffnung, dass Ryan zu ihr kommen würde? Und dann? Geh rein, Ronni Powers, ermahnte sie sich, doch sie blieb, wo sie war.

     Und dann vernahm sie Schritte. Ryan erschien in der Kurve der Auffahrt, so hochgewachsen und Achtung gebietend, in einem gut geschnittenen Anzug, den Wollmantel lässig über die breiten Schultern gehängt.

     „Überstunden?“, erkundigte er sich.

     „Alles Teil des Jobs. Aber Sie könnte ich genau das Gleiche fragen.“

     „Und Sie würden die gleiche Antwort kriegen. Eine Besprechung, die zu lang gedauert hat. Außerdem musste ich einiges aufarbeiten.“

     Vorsichtig lächelte sie ihn an. „Na ja, zumindest sind wir diesmal nicht im Schlafanzug.“

     „Ein Fortschritt, oder?“ Er ließ den Blick auf ihr ruhen.

     Ronnis Herzschlag beschleunigte sich. „Was schauen Sie mich denn so an?“

     „Sie. Ich hoffe, dass Sie mich hereinbitten werden.“

     Ronni schwieg. Sie wusste, wie unklug das wäre.

     Ryan hob halb die eine Schulter. „Ich weiß, es ist schon spät. Aber unsere Gelegenheiten sind begrenzt. Vielleicht sollten wir sie beim Schopf packen, wenn sie sich uns bieten.“ Er streckte den Arm aus und berührte kaum fühlbar ihre Wange, ehe er ihn wieder sinken ließ.

     Ronni hatte das Gefühl, als ob sie bis ins Innerste verbrannt worden sei.

     „Na gut“, meinte sie ein wenig benommen. „Kommen Sie.“

     Ryan folgte ihr, blieb aber nicht lange, nur eine Stunde. Und als er ging, bat er Ronni, am nächsten Tag mit ihm zu Mittag zu essen.

     „Ich könnte Sie von der Praxis abholen“, bot er an.

     „Nein“, lehnte sie ab, fügte auf seinen niedergeschlagenen Ausdruck hin jedoch hastig hinzu: „Ich … komme lieber ins Memorial, zu Ihnen. So gegen halb eins?“ Um dem Ganzen einen etwas unverfänglicheren Charakter zu verleihen, meinte sie: „Dann könnten Sie mir auch eine kleine Führung durch den neuen Flügel geben.“

     „Es ist ein großer Flügel“, warnte er. „Eine ganze Etage allein für die Kinderstation. Dazu kommen eine Tagesstätte und ein neuer Spielplatz. Mehr Betten für die Chirurgie. Und eine Dachterrasse. Vielleicht zu lang für eine Lunchtour. Aber wir können es ja drauf ankommen lassen.“

     „Einverstanden. Ich freue mich drauf.“ Viel zu sehr sogar …

     Sie sahen einander an. Zu lange, – bis Ryan schließlich sagte: „Ich schätze, ich muss jetzt wirklich gehen.“

     Am liebsten hätte Ronni ausgerufen: Nein! Bitte, ich möchte, dass du bleibst. Die ganze Nacht …

     Aber selbstverständlich kam nichts dergleichen über ihre Lippen.

 

Um 12 Uhr 25 am nächsten Tag trat Ronni in das Vorzimmer zu Ryans Büro ein und stellte sich seiner Sekretärin vor, einer liebenswürdigen, mütterlich wirkenden Frau in einer malvenfarbenen Bluse mit einer großen Schleife am Hals.

     „Nehmen Sie einen Moment Platz. Er kommt gleich“, sagte sie.

     Ryan erschien genau um halb eins. Er trug einen anderen Anzug als gestern, und den Wintermantel hatte er über dem Arm. Bei Ronnis Anblick wurden seine Augen warm. Sie erhob sich.

     Er zog den Mantel an und wandte sich an seine Sekretärin: „Was liegt als Nächstes an?“

     Sie warf einen Blick auf ihren Kalender. „Versicherungskonferenz. Raum A neben dem Vorstandssitzungssaal, um halb zwei.“

     „Tut mir leid“, meinte er zu Ronni. „Sieht aus, als müssten wir entweder die Führung oder das Essen ausfallen lassen.“

     „Ich glaube, mir wäre etwas zu essen lieber.“

     „Gut.“ Über den dicken grauen Teppichboden kam er zu ihr und nahm ihren Arm. Ihr Kopf reichte ihm kaum bis an die Schulter. „Fertig?“ Ryan lächelte auf sie herab.

     „Ja.“

     Nachdem sie mit dem Aufzug nach unten gefahren waren, schlug Ronni den Italiener vor, wo viele Mitarbeiter aus dem Krankenhaus aßen.

     Stirnrunzelnd bemerkte Ryan: „Bei ‚Granetti‘ werden wir nicht viel Privatsphäre haben.“

     Das war ihr nur recht. Ein geschäftiges Lokal wie „Granetti“ würde sie davor bewahren zu vergessen, dass sie und Ryan Malone lediglich eine nachbarliche Freundschaft pflegten, sonst nichts.

     „Wir haben ja nur eine Stunde“, erinnerte Ronni ihn, woraufhin auch er mit ihrer Wahl einverstanden war.

     Es gelang ihnen sogar, einen Tisch in einer Ecke zu ergattern, und Ronni bestellte ein Hühnchengericht, während Ryan Kalbsfilet mit Parmesan vorzog.

     „Wie läuft’s mit Ihrer Wohnung?“, fragte er.

     Sie erzählte, dass sie und der Elektriker nicht gerade die besten Freunde waren. „Er scheint vergessen zu haben, dass ich Steckdosen in der Küche brauche. Und die in meinem Arbeitszimmer sind alle am falschen Ort.“

     „Vielleicht sollten Sie sich jemand anderen suchen.“

     „Das würde ich auch, aber der Kerl hat einen Vertrag für den gesamten Gebäudekomplex. Aber seien Sie unbesorgt, zum nächsten Ersten sind Sie mich los.“

     „Habe ich was davon gesagt, dass ich Sie los sein möchte?“

     Ronni senkte den Blick auf ihr Knoblauchbrot und schaute dann auf. „Nein.“

     „Bleiben Sie, solange Sie wollen. Bitte.“ Ryans Stimme klang beinahe zärtlich.

     „Ronni“, hörte sie da jemand sagen. „Wie geht’s dir?“

     Mühsam riss Ronni ihren Blick von Ryan los. Neben ihr stand Dr. Kelly Hall, eine Gynäkologin, die im Medizinischen Frauenzentrum arbeitete.

     Ronni stellte die beiden anderen einander vor. „Was war los?“, erkundigte sie sich dann, da die Kollegin im grünen OP-Anzug hier war, über den sie rasch einen weißen Laborkittel geworfen hatte.

     „Das Übliche. Sechseinhalb Pfund, geboren …“, Kelly blickte auf die Uhr, „… vor genau fünfundfünfzig Minuten.“

     „Junge oder Mädchen?“

     „Mädchen. Und sie haben noch keinen Kinderarzt.“

     „Würdest du mich empfehlen?“

     „Aber sicher. Hast du eine Karte dabei?“

     Ronni kramte eine aus ihrer Tasche und gab sie ihr.

     „Und jetzt muss ich unbedingt was essen“, meinte Kelly und ging mit ihren langen, athletischen Beinen davon.

     Von der gegenüberliegenden Seite winkte jemand herüber, und Ryan hob grüßend die Hand. „Ich hab’s ja gleich gewusst“, brummte er. „Kein bisschen Privatsphäre.“

     Etwa eine Viertelstunde später begleitete er Ronni zu ihrem Wagen, einem unspektakulären japanischen Modell. Sie schloss auf und drehte sich dann wieder zu Ryan um.

     „Vielen Dank. Es war sehr …“

     Er hob die Hand, sie hielt inne, und er kam näher, viel zu nahe, und seine blauen Augen hielten die ihren fest. Da sie mit dem Rücken zum Wagen stand, konnte Ronni nicht weg, nicht einmal, wenn sie gewollt hätte. Was nicht der Fall war.

     Ryan strich ihr über die Wange. Dort wo seine Fingerspitzen ihre Haut berührten, schien sie zu glühen, genau wie gestern Abend. Er ließ die Hand hinabgleiten, und Ronni spürte seine kühlen, starken Finger im Nacken unter ihrem Haar.

     Und in diesem Moment senkte sich sein Mund auf ihre Lippen, erst leicht, dann fester, und danach …

     Oh, dachte sie. Wie wunderbar … Sie seufzte und merkte, dass er lächelte. Dann löste er sich von ihr. Ronni wollte etwas sagen, aber Ryan legte ihr den Finger an die Lippen.

     „Das wollte ich schon in der ersten Nacht tun. Und auch am zweiten Abend, als ich Sie gebeten habe, mich zum Herzensball zu begleiten. Und gestern Abend ebenso.“

     „Wirklich?“, brachte sie atemlos hervor.

     Er nickte.

     Sie hörte Stimmen und Schritte auf dem Betonparkplatz – zwei ihr unbekannte Männer, die zu ihren Autos gingen. Ryan grüßte, ehe er sich wieder Ronni zuwandte, die genau wusste, was er gerade dachte.

     „Keine Privatsphäre …“

     „Richtig.“ Er zog an dem Türgriff. „Steigen Sie ein.“

     Sie setzte sich hinters Steuer, und er beugte sich zu ihr hinunter. „Denken Sie an den Sicherheitsgurt.“

     Gehorsam schnallte sie sich an.

     „Und fahren Sie vorsichtig“, mahnte er.

     „Mach ich“, versprach sie.

 

Ein Kuss, es war doch nichts weiter als ein Kuss, sagte Ronni sich an diesem Tag wieder und wieder; ebenso beim Schlafengehen, und auch am Samstagmorgen, als sie nach dem Frühstück für ein paar Stunden in die Praxis wollte.

     Bloß ein Kuss, ein einziger zärtlicher Moment zwischen Bekannten, die einander freundschaftlich zugetan waren …

     Gegen drei Uhr fuhr sie zu ihrer neuen Wohnung. Die Handwerker hatten heute natürlich ihren freien Tag, aber Ronni ging durch die Räume und versuchte, sich von ihren Gedanken an Ryan dadurch abzulenken, dass sie sich vorstellte, wie diese aussehen würden, wenn erst einmal alles fertig war.

     Kaum bog sie um halb fünf zum Gästehäuschen ein, flog die Tür des Haupthauses auf, und Drew kam auf ihren Wagen zugerannt. Ronni kurbelte das Seitenfenster herunter.

     „Wir schmücken gerade“, verkündete er. „Kommen Sie und schauen Sie sich’s an.“

     Seine Begeisterung war ansteckend, und Ronni lächelte. „Schmücken? Wofür?“

     „Für den Valentinstag. Das machen wir jedes Jahr. Wir machen das bei allen Feiertagen – Weihnachten, Ostern, St. Patrick’s Day, für den vierten Juli, und Halloween. Das ist mein Lieblingstag. Den Valentinstag mag ich am wenigsten, all dieses Liebeszeug, wissen Sie. Aber ich mache Odie und Garfield und so was. Witzige Sachen.“ Er wollte die Tür öffnen. „Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.“ Schon hatte er die Tür aufgerissen. „Beeilen Sie sich.“

     Ronni lachte. „Darf ich vorher vielleicht noch mein Auto parken, damit dein Vater nicht in mich reinfährt?“

     „Das würde mein Vater nie tun. Er ist ein guter Autofahrer.“

     Kinder, dachte Ronni, die nehmen immer alles so wörtlich. „Ich habe nur gemeint, dass ich ihm im Weg stehen würde, wenn er nach Hause kommt. Oder ist er schon zu Hause?“

     „Nein. Ich glaube, er ist zum Squashspielen im Club.“

     Schamlos quetschte sie den Jungen noch weiter aus. „Meinst du, dass er bald nach Hause kommt?“

     „Ronni, bei meinem Vater weiß man nie, wann er nach Hause kommt. Kommen Sie jetzt mit, oder nicht?“

     Dem bittenden Ausdruck in seinen Augen, die denen seines Vaters so ähnlich waren, konnte sie einfach nicht widerstehen. „Na klar. Lass mich nur eben schnell das Auto wegfahren, ja?“

 

Axel Pembroke, der quer über den Court hechtete, versuchte sein Bestes, um Ryans Aufschlag zu erreichen. Er schaffte es nicht. Der Ball traf die Frontwand, prallte ab, schoss an die linke Seitenwand, dann an die rechte und stoppte schließlich parallel zur Rückwand.

     „Ein perfekter Z-Aufschlag“, keuchte Axel. „Spiel und Satz. Du hast mich platt gemacht. Mal wieder.“ Er schleppte sich zu seinem Handtuch, legte es sich um den Hals und trocknete sich den Schweiß. „Warum spiele ich überhaupt mit dir?“ Er verdrehte die Augen, die hinter seinen dicken Sportgläsern übergroß und leicht hervortretend erschienen. „Du lässt mich nie gewinnen, obwohl ich der Mann bin, der direkt dafür verantwortlich ist, dass du diese Riesenschecks vom Pembroke Fond kriegst, die du brauchst, um deinen Super-Neubau zu finanzieren.“

     Ryan lachte. „Ach Unsinn, Axel. Erstens ist es nicht mein Neubau, und zweitens würdest du mich nicht mehr respektieren, wenn ich dich gewinnen ließe.“

     „Woher willst du das denn wissen? Du hast es nie ausprobiert. Aber andererseits, ich beschwere mich ja eigentlich gar nicht.“ Axel nahm die Sportbrille ab, um sich den Schweiß um die Augen abzuwischen, und setzte sie wieder auf. „Die Wahrheit ist, ich wusste immer, wenn ich dich jemals schlagen würde, wäre das ein echter Sieg.“

     Ryan griff nach seinem Handtuch und warf es über die Schulter. „Wusste? Vergangenheit? Ist das etwa deine Art, mir zu sagen, dass wir gerade unser letztes Spiel gespielt haben?“

     Axel zögerte, dann schmunzelte er. „Ich fürchte, was mich betrifft, wirst du mich nicht so schnell los.“

     „Moment mal, habe ich je behauptet, dass ich das will?“

     „Nein“, gab Axel zu. „Hast du nicht. Mir gegenüber bist du ein wahres Muster an Geduld.“ Gemeinsam verließen sie den Court, wobei Ryan voranging, und Axel fuhr fort: „Ehrlich gesagt, du bist ein wahres Ideal, Punkt. Ein in jeder Beziehung überlegener Mann. Mein Analytiker meint, ich beneide dich. Du bist all das, was mein lieber dahingeschiedener Vater sich von mir erhofft hat.“

     Ryan sagte nichts. Er konnte nachvollziehen, dass der alte Pembroke ein wunder Punkt bei Axel war. Die Pembrokes waren eine alteingesessene und einflussreiche Familie in Honeygrove. Als Axel Pembroke III gestorben war, hatte er den größten Teil seines Vermögens der Stiftung vermacht, die den Namen seiner Familie trug. Seinem einzigen Sohn, Axel IV, hatte er hingegen nur einen bescheidenen Treuhandfond hinterlassen, und die Aufgabe, das Geld für gute Zwecke zu verwalten, von dem dieser sicherlich überzeugt war, dass es von Rechts wegen eigentlich ihm selbst zugestanden hätte. Dass Axel nur eine so geringe Summe geerbt hatte, war so etwas wie ein örtlicher Skandal gewesen.

     Ihre Squash-Taschen standen an der Wand neben der Tür, die zum Court hineinführte. Ryan kniete sich neben die seine und verstaute seinen Schläger.

     Axel stand neben ihm. Ryan blickte zu ihm auf. Axels Miene wirkte auf unheimliche Weise nachdenklich.

     „Ja“, sagte Axel. „Das ist das richtige Wort – Ideal. Du hast mit nichts angefangen, und sieh dir an, wo du jetzt bist. Während ich dagegen alles hatte, alle Privilegien, zumindest im Hinblick auf Geld und Ausbildung. Und was habe ich daraus gemacht? Nicht viel.“

     Ryan zog den Reißverschluss der Sporttasche zu. „Axel, wieso sagst du mir nicht einfach gerade heraus, was dich beschäftigt?“

     Axel bückte sich zu seiner eigenen Tasche. „Die Sache ist die, ein Mann muss seine Chance dann ergreifen, wenn sie sich ihm bietet.“

     Was zum Teufel sollte das heißen? „Axel, willst du mir damit irgendwas Bestimmtes sagen?“

     Axel schien seine Gedanken abzuschütteln. Und dann schmunzelte er erneut. „Nein. Nichts. Gar nichts. Ich hab nur laut gedacht.“

 

Den ganzen Heimweg über fragte Ryan sich, was wohl mit Axel los sein mochte.

     Er war noch immer verwundert, als er durch die Hintertür ins Haus kam. Von der Küche her hörte er Stimmen, und unwillkürlich horchend hielt er auf der Waschveranda inne.

     „Sehen Sie, das ist Garfield“, sagte sein ältester Sohn gerade. „Ich werde ihm eine von diesen Blasen über den Kopf hängen. Er denkt: ‚Wer braucht schon Liebe? Ich will mein Abendessen.‘“

     Eine Frau lachte. Ryan erkannte das Lachen. Es war Ronni.

     Dann sagte sie: „Klingt genau nach Garfield.“

     „Du meine Güte, haben wir viele Dekorationen gemacht.“ Das war Lilys Stimme. „Wo tun wir die bloß alle hin?“

     „Omi, schau mal“, rief da Lisbeth. „Ein großes grünes Herz. Nur für dich.“

     „Oh, Schätzchen, das ist ja lieb. Aber ich glaube, Herzen sollen eigentlich rot sein.“

     „Ich mag aber grün, Omi.“

     „Und ich mag lila!“, erklärte Griff, und Ryan musste lächeln. Alles, was sein Jüngster in letzter Zeit äußerte, schien mit einem Ausrufezeichen versehen zu sein.

     „Jetzt müssen wir anfangen, sie aufzuhängen“, meinte Drew.

     „Gleich“, gab Lily zurück. „Aber zuerst …“

     „Ich weiß, zuerst müssen wir unseren Kram aufräumen.“

     „Richtig.“ Lilys Tonfall veränderte sich, wurde tiefer, sachlicher. „Natürlich hat Patricia hiermit begonnen. Es ist eine Familientradition, für jeden Feiertag zu schmücken.“

     „Eine wundervolle Idee.“ Ronni klang höflich, und bemüht, das Richtige zu sagen.

     Erst in diesem Augenblick wurde Ryan bewusst, dass er lauschte, und er schlug die Tür geräuschvoller als nötig hinter sich zu.

     „Das muss Ryan sein“, hörte er Lily sagen.

     Er betrat die Küche, wo alle zusammen am Tisch saßen. Tonpappe, Filzstifte, Scheren, Papierdeckchen, Leim und Glitzerklebstoff bedeckten die gesamte Tischplatte. Ronni saß mit dem Rücken zu ihm. Sie drehte sich um, und ihre grünen Augen strahlten so hell, dass er sich beinahe geblendet fühlte, als ihre Blicke sich begegneten.

     Griff sprang von seinem Stuhl herunter. „Daddy, schau mal!“ Er streckte ihm ein etwas krumm und schief ausgeschnittenes lila Herz entgegen. „Lila! Das mag ich!“

     Ryan ließ seine Sporttasche in eine Ecke fallen und kniete sich zu seinem Sohn. „Ja, das ist lila. Ein prima lila Herz.“

     „Guck dir mal meins an, Daddy.“ Lisbeth hielt ihre Kreation hoch.

     „Sieht schön aus“, nickte er.

     „Erst müssen wir aufräumen“, sagte sie. „Dann dürfen wir die Sachen aufhängen. Du kannst uns dabei helfen.“

     „Dad hat bestimmt zu viel zu tun“, wandte Drew ein.

     „Nein“, erwiderte Ryan fest, auch wenn noch viel Arbeit auf ihn wartete. „Ich bin jetzt hier, und ich werde euch helfen.“

     „Oh, Ryan“, protestierte Lily. „Das ist wirklich nicht nötig.“

     „Doch“, erklärte er. „Es ist sehr nötig.“

     Ronni stand auf. „Nun, ich jedenfalls finde diese Dekorationen einfach unglaublich. Aber ich denke, ich sollte jetzt besser …“

     Auf keinen Fall würde er sie jetzt entkommen lassen. „Bleiben Sie.“ Das kam heraus wie ein Befehl, aber das war Ryan egal.

     „Ja“, fiel Drew mit ein. „Bleib doch noch.“ Unwillkürlich war er wie seine Geschwister ins Du verfallen.

     „Ja“, piepste auch Lisbeth. „Daddy kann die Leiter holen, damit er an die hohen Stellen drankommt, und du kannst das Klebeband halten.“

     „Bleib da!“, rief Griff.

     „Ach, Kinder“, schalt Lily. „Wenn Ronni gehen muss, dann sollten wir sie nicht …“

     „Muss sie aber nicht.“ Ryan suchte Ronnis Blick. „Oder?“

     „Ich …“ Sie strich sich ihren weiten Rock glatt und versuchte wegzuschauen.

     „Bleiben Sie noch“, wiederholte er.

     Und sie gab nach. „Also gut, ja gern.“

     Innerhalb einer Stunde waren alle Vorderfenster mit Herzen aller Formen und Farben zugehängt, nicht zu vergessen Garfields und Odies von Drew. Als Ryan die Trittleiter schließlich wegstellte, war es sechs Uhr. Und Lily sagte, dass das Essen in etwa einer halben Stunde fertig sein würde.

     Wieder wollte Ronni sich verabschieden, doch Ryan kam ihr zuvor.

     „Sie müssen etwas essen“, meinte er. „Dann können Sie das genauso gut auch bei uns tun.“

     „Aber ich …“

     „Ja, dableiben!“ Aufgeregt sprang Griff auf und ab. „Sie essen mit uns!“

     Und erneut gab Ronni nach.

     Aber um halb acht, nachdem der Tisch abgeräumt war und die Kinder sich zum x-ten Mal den König der Löwen anschauten, blieb sie standhaft dabei, dass sie nun aber wirklich gehen musste.

     „Fein“, sagte Ryan. „Ich bringe Sie rüber.“

     Sie wollte Einwände erheben, doch er ließ ihr keine Gelegenheit dazu.

     „Ich möchte Sie gerne nach Hause bringen. Haben Sie ein Problem damit?“

     „Na ja, nein, aber …“

     „Gut. Dann sagen Sie den Kindern gute Nacht, und wir gehen.“

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